TQW Magazin
Chris Standfest über Cloth Ball Square von Oleg Soulimenko

Ginge da ein Wind…

 

Ginge da ein Wind…

 

Ginge da ein Wind
Könnte ich ein Segel stellen
Wäre da kein Segel
Machte ich eins aus Stecken und Plane.

(Bertolt Brecht, Buckower Elegien, 1953)

 

Sie haben mich ganz schön gekriegt, die drei Performer*innen, die da auf einer nur halb ausgeleuchteten Bühne in der Halle G aus dem Dunkel auf uns zukommen.[1] Schwarz gekleidet, in so etwas wie Arbeitsklamotten, stehen sie nun „an der Rampe“ und erzählen auf sehr charmante Weise, oder besser „casually“, von einem „Ball“, den sie für diese Performance benötigten. Riesig sollte er sein, und alsbald wurde klar: So was kann man sich nur aus China leisten.

Und so sind wir mittendrin im ganzen Ungemach der Weltökonomie; allein unseren Kunstarbeiter*innen scheint das nicht allzu viel auszumachen. Sie schildern munter den Weg, den diese Kugel (immer noch weiß ich nicht genau, wovon sie sprechen – von etwas zum Aufblasen, von einer Kugel oder doch von einem richtigen Ball?), den also dieses Ding von seiner Bestellung über die Herstellung im fernen China und sodann im Schiff reisend nimmt (ja, Madagaskar!), bis es endlich an Land beim niederländischen Zoll strandet. Es scheint knapp zu werden mit den Proben oder was auch immer die drei aus dem Bühnendunkel hervorgetauchten Personen damit vorhaben.

Sie sprechen mit uns, als wären wir Freund*innen oder Fremde zu Besuch. Und vielleicht ist das deshalb so gewinnend, weil kein Zweifel darüber aufkommt, dass wir alle nun einmal hier sind und deshalb wahrscheinlich auch irgendwas wollen. „Wie angenehm“, denke ich, „eine Verabredung, die des Theaters, des Spielens und des Zuschauens; die dort unten machen etwas, und wir hier, nach oben gereiht sitzend, erwarten etwas.“ Unten bleibt es weitestgehend dunkel, aber wir vertrauen auf die Spielregeln, „es wird schon noch was kommen“. Mehr Licht, mehr Show, eine Illusion. Und ja, ich genieße die Zugänglichkeit, die Einfachheit und auch das sich ausbreitende Versprechen, dass mir hier „nichts geschehen wird“.

Warum aber schleicht sich in diese Freundlichkeit das Gefühl, dass hier nichts harmlos ist? Mich überfällt der Gedanke, dass das auch etwas mit den Akteur*innen zu tun hat, bis hin zu ihren Akzenten (russisch, spanisch), die Welt enthalten, Imperien, Krieg, Niedergang, Exil, Widerstand.

Machen. Segel setzen.
Vermessung des Raums, der Dinge.
(Sie unten, wir nach oben aufgereiht sitzend.)

Bewegungen beginnen, Tanz womöglich, ein Spiel mit Artikulationen – der Arme, der Beine, der Körperwinkel, der Blickachsen –, ein Erproben der Geometrie. Zwei agieren zusammen, eine*r allein, in präzise ausgeloteten Abständen auf diesem Fast-Quadrat der Bühne. Mehr geht nicht, selbst wenn das Licht alles tut, um diese Abstände, Räume anders zu zeigen, zu erfühlen, zu transformieren. Ich bewege mich mit ihnen in diesem sich in Bewegung setzenden Loch, das die Bühne ist. Als würden meine Augen sich festkleben, anhaften an den Dingen und Menschen, Haut an Haut, Oberfläche an Oberfläche. Oder, Kleist fällt mir ein, beim Betrachten eines Gemäldes (Seelandschaft) von Caspar David Friedrich: „als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären“.

Es scheint also auch um Rahmen und Grund zu gehen, um die Konstruktion des Bildes, die Form: Und siehe da – „we still believe in art“, sagen Oleg Soulimenko und Daria Nosik, und ich juble auf im Innern (ich lese eben Reiner Stachs dreibändige Kafka-Biografie) und denke: „Ja.“

Die Modernen, Kafka, Kandinsky, eine Bildbeschreibung der bewegten Art dieses kupferfarbenen Quadrats vulgo Holzbretts. Das Brett wird betastet, überprüft, gestreichelt. Es mutiert sogleich zum bewegten Körper und simuliert eine agency, die Menschen verbirgt und enthüllt, im Lehnen und Tragen sein und deren Gewicht zum Vorschein bringt. Etc. „Good old Objekttheater“, denke ich und berge mich in seinem Charme, in seiner Form (Grenze), in seiner Ordnung. Dass diese Ordnung nicht hält, noch nie und sowieso nicht, damit spielen die Performer*innen (Daria, Dafne, Oleg, Licht, Sound, Bühne, Zeit, Stoff, Brett) spätestens mit dem weiteren Einsatz von so etwas wie Sprache …

Dafne Moreno tanzt und ringt murmelnd, grummelnd mit Dingen wie der Stoffbahn, die enthüllt und entfaltet wird. Keywords, Motive tauchen auf … „Where does the river end and the sea begin? … Few escape to a better place … We all strive to be young and rich …“ Und: Utopisches. Was hier wie die Rudimente (Sedimente) eines Songs (never-ending) klingt, zieht eine Spur der „Wirklichkeit“ ein, und Stoffbahn wird Fessel, wird Kleidung, wird Hülle, wird Ballon, wird Schönheit. Später laufen die Performer*innen mit dem Stoff hin und her. Riesenhaft wird die Bahn und flattert bis zur Decke (Ginge da ein Wind …), und zum ohnehin wundervollen Sound von Peter Plos bleibt da nur: hingerissen sein. Mitgerissen vom Wind, der bis zu mir hinaufweht.

„Ich schwebe ab im Kopf“, steht in meinen kaum leserlichen Notizen aus der Vorstellung – während sich auf der Bühne das Loch weitet und (freilich!) der Ball im Hintergrund erscheint. Ein froschgrünes aufblasbares Ungetüm, etwas wie ein überdimensioniertes Monster-Virus, und es hat ein Loch, in das Daria schließlich kriecht. Sie wird nach oben gepumpt, wo sie, wie eine Fliege von einem Spinnenball gefangen, schreit: „Can you help me, please!“ Ein Auftritt in bester Slapstick-Manier, in dem das Tragische erscheint, die Anrufung, die Verlorenheit und die Grenze der Kunst (ich werde ihr nicht helfen). Die da unten, ich da oben auf der Tribüne, während der Ball, das Monster, das Spielzeug aus China die Performerin bis an die Bühnendecke hebt.  so weit erhöht, bis an die Bühnendecke.

Ein schönes Schlussbild hart am Kitsch entsteht noch, ich habe es vergessen.

Erinnerung an ein Stück. Ein Versuch, sie aufzuschreiben. Was klingt wie action, Schlag auf Schlag, war in Wahrheit ein Ort für Ruhe. Ein Ort für Zeit auch, um die Augen sich an den Körpern und Dingen anhaften zu lassen; den eigenen Körper als (mit-)bewegten zu empfinden und das Denken gleiten zu lassen. Denn ständig werde ich in Ontologisches verwickelt. Ein Spiel, vielleicht ein Widerstreit, vielleicht Dialektik, zwischen Subjekt- und Objektpositionen; zwischen Arbeit als Veränderung des Gegenstands (und von sich selbst), zwischen Intention (Wille, Gestaltung) und der „Tücke des Objekts“ – mithin zwischen dem „alten“ Materialismus von der Romantik (ja, auch Marx) zur Moderne (Kandinsky, Kafka) und dem „neuen“, der Handlungsvermögen, Leben-Nichtleben, Menschliches-Nichtmenschliches, in Versammlungen denkt, in unauflöslichen und nicht geteilten Lebendigkeiten. Vibrant Matters … durchzogen von poetischen körperlichen Aktionen zwischen Geometrie, Vermessung, Richtungen, ihren geopolitischen Machtverhältnissen und einem Agieren in und aus Verwicklung, Immersion, Interdependenz, Intra-Aktion, response-ability (Sprache, Murmeln, Grummeln, Sprechen).

Diesem Widerstreit sowie der Gewalt des Zusammenhangs entkommen wir nicht.
I still believe in art.

 

 

[1] Und nicht nur sie: Sound, Bühne, Licht. Stoff, Ball, Quadrat, Farben. Dramaturgie, Text, Produktion.

 

Chris Standfest  (Ex-)Performerin, Dramaturgin, Kuratorin, studierte parallel zu politischem Aktivismus und kollektivem Arbeiten in unterschiedlichen künstlerischen und gesellschaftlichen Feldern unter anderem Literaturwissenschaft, Linguistik, Gender und Cultural Studies an der Freien Universität Berlin und der University of Lancashire. Sie ist Dramaturgin und Kuratorin bei ImPulsTanz – Vienna International Dance Festival.

 
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