TQW Magazin
Gabrielle Cram über 168 stunden (a tribute to everyday life and franz erhard walther) von Claudia Bosse/theatercombinat

168 stunden, aktiv leben – Eine Kommunikation

 

168 stunden, aktiv leben – Eine Kommunikation

Reste der Mauer,

an der Spuren von Innenraum

kleben, trennt einen Bereich

in dem sich Häuser von hinten,

Rückseite zu Rückseite

gegenüberstehen.

 

Textprojektion von

Bettina Vismann

 

Sonntag, 18. Juni, ca. 21 h

 

In einer brachliegenden Baulücke, wo sich in der Vertikale zwei „Häuser von hinten Rückseite zu Rückseite gegenüberstehen“, liegen in der Horizontalen seitenverkehrt zwei idente Grundrisse nachbarschaftlich aneinander. Sie spiegeln sich; die Bewohnerinnen – Performerin und Choreografin Claudia Bosse und Architektin Bettina Vismann – sich und ihre Passantinnen; sich und ihre angrenzenden Bewohnerinnen ähnlicher Grundrisse; sich und alle Bewohnerinnen ähnlicher Grundrisse mit ähnlichen Bedingungen. Zweimal täglich für drei Stunden beschreiben sie die Bedingungen.  Die Bedingungen ihres Alltags, ihres Ortes, ihrer Begegnungen innerhalb der Bedingungen. Sind die Bedingungen Bedingung dieses Alltags oder sind (die) Bedingungen verhandelbar, veränderbar, und wo findet, kann Handlung stattfinden, trotz oder gerade ob der eingeschränkten und doch gleichzeitig (denkbar) Möglichkeiten erweiternden Konditionen?

Die modellhafte Versuchsanordnung zwischen aktivistischem Squat, theatraler Inszenierung, Reality-Show, Labor, Feldstudienaufenthalt oder architektonischer Vermessung bietet viel Raum für eigene und kollektive Assoziationen und Projektionen. Wird das selbstauferlegte Protokoll – „die Bedingungen“ – eingehalten, und ist es wichtig? Oder dient die angewandte Theatralität vor allem als Trajektorie für das Kippen des Bildes des Bekannten in eine stete Bewegung zwischen dem neu Wahrgenommenen und dem vermeintlich Realen, um so Neuanordnungen möglich werden zu lassen? Nichts ist, wie es scheint, und vielleicht ist es wichtig, dies zu verstehen, um die Gedanken und sich selbst in Bewegung zu versetzen. Jacques Rancière behauptet, dass der Ort des Politischen heute nicht darin liegt, in Platos Höhle zu gehen, um zu zeigen, dass hier eine Täuschung vorliegt. Er sagt, dass das Politische dort liegt, wo wir in Platos Höhle verstehen, dass wir uns bewegen können, handeln.

Das aktive Leben, die menschliche Kondition im Alltäglichen. Das Alltägliche als Ort des Politischen. Das Handeln bildet für Hannah Arendt die Grundlage der politischen Existenz des Menschen. Eng mit dem öffentlichen Raum verbunden, ist es Kern jeder Interaktion, der Kommunikation. „Inter aktion“ (Projektion von Claudia Bosse) im Zwischen der Menschen. Ich bin ein anderes Du, du bist ein anderes Ich. Wir sind nicht gleich, und doch spiegeln wir uns anteilig in uns. Wir tauschen Blicke. Vielleicht sind wir mehr gleich als unterschiedlich. P.S. meint während seines Besuchs auf der Brache: „Wie das Leben der zwei Veronikas“, und „Wie Zwillinge und doch anders“, verlautet P.G. erkennend und fragend zugleich. Sind es unsere Bedingungen, die uns ähnlicher machen, ohne es zu wissen, oder sind es unsere Entscheidungen? Wollen wir es wahrhaben? Stehen wir in großer oder kleiner Vielzahl, ob wir uns sehen oder nicht, Rücken an Rücken, zueinander? In „Der Weg nach Wigan Pier“ beschreibt George Orwell 1937 die Kultur und den Geschmack der Arbeiter in einer Bergwerksgegend in der Nähe von Liverpool und wie dieser von den Vorstellungen zeitgenössischer linker Aktivisten und Bohemiens differiert; wie diese ihn nachzuahmen pflegen, um eine Bewegung zu markieren oder aus Identifikation. Nach Orwell hatten der „billige Luxus“ und die strukturelle Differenz der unterschiedlichen Bedingungen diese längst mit vertikalen Trennlinien versehen. Solidarisch heißt im Gesellschaftsvertrag miteinander haften, auch Rücken an Rücken. Die gleichen Bedingungen haben, auch transversal, also quer verbunden, total verquert, verkehrt? Ist nichts, wie es aussieht? Können die gleichen Dinge noch gleich sein, auch wenn sie in einer anderen Form erscheinen? Adorno: „Es lässt sich privat nicht mehr richtig leben.“ Kaffee mit Schlagobers. Zeit. Das süße Leben. Wie sieht es aus? Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Wer kann jetzt in diesem Moment nicht darüber nachdenken? Wer kann darüber nachdenken, und was ist wichtiger? Was ergibt eine klarere Aussage bezüglich der Umstände, der Welt, in der wir leben? Wer hat Zeit, und ist dieselbe Zeit auch Luxus für Arbeitslose, oder was bedingt das Genießen von Zeit? „Es sieht irgendwie glücklich aus“, sagt H.P. als Besucher der dritten Objektanwendung, in welcher die zwei Performerinnen nichts sehen müssen, weil sie in karierte Stoffe gehüllt und über ihre stoffliche Verbindung ihre Beziehung, ihr Verhältnis zueinander, vielleicht auch ihr Vertrauen in- und aneinander sowie ihre Position zum (Um-)Feld blind prüfen. Danach Augen-Blicke. Ja, es sieht irgendwie glücklich aus, und ich merke, wie das Glücklichsein fast fremdelt in seiner neuen Sichtbarkeit, und auch wenn sein Durchdringen nicht aufhaltbar ist, es auch ein Gefühl des Verbotenen, des Obszönen umhüllt und fest-halten will. Aber es scheint durch. Es ist von einem anderen Stoff. Sind wir uns einig, dass wir darauf bestehen sollten, auf das Glück als Menschenrecht, auch unter Bedingungen, die es nicht erlaubt sehen wollen? Die Zeit ohne Bedingung sollte Teil dieses Rechts und fixer Bestandteil aller Alltage sein.

Bettina Vismann projiziert am zweiten Abend: „Die Grenzen des Eigentums sind in den vertikalen Linien, an denen eine Sockel-linie verspringt, markiert.“ Die Horizontalen verbinden. In der zweiten Objektanwendung der Performerinnen legt sich am Montag um 17 Uhr Franz Erhard Walther in einer weichen blauen Bahn über die markierten Trennlinien der Territorien. Die beiden Bewohnerinnen kommen aus ihren örtlich separat ausgeführten Routinen und begegnen sich über ihn. Das Soziale wird behutsam in Bezug zur Fabrikation und zur anderen getestet, Schritt für Schritt angenähert, die Spannkraft, der Zug, die Belastbarkeit, die Verträglichkeit, die Offenheit, das Loslassen, die notwendige und die mögliche Distanz, Zeitlichkeit, das Eigene, das Gemeinsame, ein gemeinsames Tun erprobt, aufeinander zugehen, nebeneinander zueinanderstehen. Begegnung der Blicke. Berührung. Auseinandergehen.

Was bleibt? Zwischen den Schichten im Zwischenraum lagern sich Geschichten ab, im Geschichte. Handeln, ein Umschichten der Bedingungen des Alltags, Geschichte schreibend. Ich war hier, und ich habe was versucht. Heute haben sie die Nachrichten gelesen. In dieser Reduktion fällt jede veränderte Bedingung ins Gewicht und verändert jedes eingefundene Gleichgewicht und das daraus resultierende Handeln. Eine einzige gravierende Bedingung kann so gewichtig sein, dass alles Handeln sich an ihr orientiert, dann handeln alle gleich und gleichzeitig, alle beide tun es dann gleich. Genauer schauen. Die Reduktion der Bedingungen lässt sie das Material der Bedingungen, den Stoff der Dinge untersuchen, die Differänz der Differenz, Schwarz und Weiß in zehntausend Grautöne zerspringen, um dabei im Akt, in der Handlung, ihre Immanenz immer neu zu erfahren. Und während ein zweiteiliges rosa-rotes Gespenst im Garten um das Haus der anderen schleicht, legt sich ein Körper in das Wohnzimmer der anderen, und während wir ruhig werden, setzt der Körper sich ab mit all den Dingen rundherum und sinkt langsam in den Boden. Am Boden der Grundbedingungen beginnen die Dinge sich langsam zu zeigen, und immer wieder sind wir erst am Anfang. […]

 

Dialogischer Text im Prozess von 168 stunden

16.–23. Juni 2018, Gabrielle Cram

 

Gabrielle Cram geboren in Falkirk, Schottland, lebt als Kulturarbeiterin in Wien. Dabei nimmt das Bespielen transdisziplinärer Felder und Praxen der Übersetzung – zwischen Genres, Räumen, Sprachen, Orten, Zeiten – eine wichtige Rolle ein. Ihre Tätigkeit ist von der Anwendung verschiedener Formen von Mediation geprägt sowie vom Schaffen von Verhandlungsräumen und Kontaktzonen für noch offene Prozesse. Sie arbeitet als Dramaturgin, Kuratorin und Kulturvermittlerin.

 

Alle Beiträge im TQW MAGAZIN

 
Loading