TQW Magazin
Martina Ruhsam über and and von Lisa Hinterreithner

Verortungen im gepunkteten Raum

 

Verortungen im gepunkteten Raum

Große schwarze Plastikgebilde schweben im fluoreszierenden Raum, der zugleich kühl und warm ist. Grüne, blaue und gelbe Leuchtstoffröhren. and. Zuschauertribünen mitten im Raum – daneben ein Mischpult. and. An einigen Wänden formen farbige Klebebandstücke Punktnebel. and. Die Musikerin geht zum DJ-Pult. and. Zwei Frauen. In Street-Chic. Identische Jeans, Sneakers, modische Trainingsjacken, Mützen. Auf dem Fensterbrett lungernd. and and. Am Anfang wird ein Wort gebildet: MODEL. Ausgerechnet „model“? Mit Klebepunkten wird es an die Wand formuliert. Neben den Lettern posiert eine der Performerinnen – cool an die Wand gelehnt. and. Die Schrift wird zu einem Übertitel ihrer Gestalt, einem Kommentar ihres Körpers. Oder kommentiert ihr Körper das Wort? Schon ist der Wand ein Wille aufgebürdet, aus Punktnebel Schrift geworden, die dem Körper eine Zuschreibung hinzufügt. Eine Wortschublade ist geöffnet. Wer zu nah kommt, wird Repräsentant*in. and. Punkte werden weitergegeben. Die Frauen stehen auf teils schwarz, teils pink gepunktetem Grund – vor punktiertem Hintergrund. Sie beginnen, den gepunkteten Raum auf ihre Körper zu übertragen. Um dann die Punkte wieder dem Raum zurückzugeben. and. Sie werden Teil des Patterns auf dem Boden, auf der Rückwand, auf der außerdem unbekannte, aus Klebeband geklebte Schriftzeichen stehen. Aus MODEL wird FUCK OFF MODEL. Sprache und Schrift sind dienlich bei territorialen Festlegungen und identitären Verortungen. Zwei Körper vor einer Fläche der Einschreibungen auf gepunktetem Terrain (oder Territorium?), das sich auf die Körper ausdehnt und sich wieder auf den Fußboden zurückzieht. and. Deleuze und Guattari differenzierten zwischen einem glatten Raum der Offenheit und Grenzenlosigkeit, den sie als den Raum der Nomaden betrachteten, und einem gekerbten Raum der Grenzen und Reglementierungen, den sie als den Raum der Sesshaften definierten. Der gekerbte Raum steht für das Ein- und Zuteilen von Territorien, für die Normierung von Verhaltensweisen, während der glatte Raum als eine Zone von Ununterscheidbarkeiten für Öffnungen, Deterritorialisierung und vielfältige Verhaltensweisen steht. Im glatten Raum sind Materialien Kräfte oder Symbole, im gekerbten Raum ist Materie durch Formen organisiert. and. Das Meer war für Deleuze und Guattari der paradigmatische glatte Raum, der dennoch „am ehesten mit den Anforderungen einer immer strengeren Einkerbung konfrontiert“[1] ist.

and and. Zwei Frauen, die sich an Einkerbungen abarbeiten – Markierungen weitergeben und dadurch Ähnlichkeiten schaffen (beide rosa gepunktet), als Zusammengehörende und sich in diesem Milieu Befindliche identifizierbar machen. and. Plötzlich: „Which group do you belong to?“ Beide Frauen liegen erschöpft im Punktemeer – nichts regt sich. Sie sind einander vertraut. So tired of this tension. In der Abgeklärtheit, mit der diese Frage gestellt wird, schwingt Sehnsucht nach einem glatten Raum mit. „Durch die eigene Wahrnehmung, entweder hier oder dort zu sein, entstehen gleichzeitig Ausschlussmechanismen und identitäre Selbstplatzierungen.“[2] Mit subtiler Ironie werden Zugehörigkeiten verbal durchdekliniert: „I am a feminist.“ „I am a feminist with proletarian background.“ „I am a bourgeois feminist with working-class background.“ „I am …“ and and im Dschungel der Identitätsschablonen, die mehr und mehr ausdifferenziert und dadurch in ihrer vermeintlichen Universalität immer absurder erscheinen. and. Der Raum kontaminiert die darin befindlichen Körper. Sie markieren einander. Werden Teil der Patterns, fügen sich dem Milieu. Sie assimilieren sich. Und verändern doch den Raum grundlegend. Die von Elise Mory live im Dialog mit den Performerinnen erzeugte Electro-Soundscape verdichtet den Raum und ruft die Assoziation von Kaurismäki-Filmen hervor. and and. Ein Gespräch über Viktimologie – die vorschnelle Unterteilung in victims und offenders – eine Errungenschaft der kleinpunktierten Gesellschaft mit ihren pseudopolitischen Schubladensystemen. Schnell auf eine Seite hüpfen und niemals auf beiden gleichzeitig tanzen. Sich vorschnell mit victims zu identifizieren bringt den Vorteil, ab sofort nicht mehr Teil des Problems zu sein. „Wenn dir etwas geschieht, was du nicht verursacht hast und was du nicht kontrollieren kannst, dann ist das Misshandlung. Wenn du selbst Teil des Problems bist, dann ist das ein Konflikt“, sagt Sarah Schulman, auf die sich die Choreografin Lisa Hinterreithner bezieht, in einem Interview über die Sozialarbeiterin Catherine Hodes. „Sie sagt, dass wir in einer Situation sind, in der die Menschen reflexhaft ihr Leiden übertreiben und alles, was als Widerspruch wahrgenommen wird, sofort mit einer Unschuldsbehauptung beantworten anstatt mit einer Bereitschaft zur Auseinandersetzung.“ and. Allem kleben die beiden Frauen ihre Punkte auf. Schluss mit and. Either – or. Punktiert oder nicht punktiert? Teil dieses Milieus oder nicht? Schwarz oder pink? Opfer oder Täter? Links oder rechts? Jungfrau oder Hure? Im Raum sein oder wie der Raum sein? and. Ein in das vormals schwebende Plastikgebilde verborgenes Gesicht. Deleuze und Guattari dachten über den perversen Körper im Gegensatz zum theologischen Körper nach und behaupteten, dass der perverse Körper aufgrund seiner Kraft zu zweifeln pervers ist. Weder links noch rechts, weder am Anfang noch am Ende. Ein Und-Körper. and. Wenn die Differenzierung nicht das Undifferenzierte unterdrückt, das in ihr gespalten ist. Was wäre ein Körper, der sich alle möglichen Festlegungen offenhält und sich weigert, Selbstbehauptungen auf Kosten der Unterdrückung dessen aufzustellen, was er (noch) nicht ist? and and endet mit einem Lied der Erschöpfung, zwei am Boden liegenden Frauen und dem Wunsch nach mehr Optimismus. So tired of this tension.

 

[1] Gilles Deleuze / Félix Guattari, „Das Glatte und das Gekerbte“, in Jörg Dünne / Stephan Günzel (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006, S. 434.
[2] nowhere-nowhere.org

 

Martina Ruhsam, geboren in Linz, arbeitet als Künstlerin, Theoretikerin und Dozentin. Ihre künstlerischen Arbeiten und Kollaborationen wurden in verschiedenen europäischen Institutionen präsentiert. Sie war Redaktionsmitglied bei Corpus und Maska und arbeitete von 2008 bis 2009 im Theoriebereich des Tanzquartier Wien. 2011 veröffentlichte sie die Monografie Kollaborative Praxis: Choreographie. Seit 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, wo sie derzeit ihre Dissertation abschließt.

 

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