TQW Magazin
Frans Poelstra über The Caldeirão Highlanders von Vera Mantero

Cage sings the blues

 

Cage sings the blues

Prolog – vor der Performance verfasst, ohne etwas darüber gelesen zu haben

Es ist Spätfrühling 1997, ein Tanzstudio in Loulé an der Algarve (Portugal). Der erste Tag einer zweiwöchigen Residency, der erste Probentag für „The fall of an ego“, ein Stück von Vera Mantero, und auch der erste Tag meiner Zusammenarbeit mit Vera. An diesem Tag sahen wir uns den Proberaum an, in dem wir die folgenden zwei Wochen verbringen sollten. „Wir“ waren 6 Performer*innen, inklusive Vera – die meisten von uns kannten einander nicht. Es war ein komfortables Studio. Ein großartiger Ort zum Arbeiten. Letztendlich war das der einzige Tag, an dem wir dort waren. In den darauffolgenden Tagen fuhren wir mit dem Auto ins Hinterland der Algarve, weg vom Strand; wir parkten das Auto mitten im Nirgendwo und gingen in der Natur spazieren; ohne ein bestimmtes Ziel gingen wir nur zu Fuß, ohne Straßenkarte oder was auch immer (1997 gab es kein GPS). Meistens verirrten wir uns, aber irgendwie fanden wir immer den Weg zum Auto zurück und fuhren wieder nach Hause. Am Abend kochten wir (wir teilten uns eine Wohnung), unterhielten uns, lasen, diskutierten, tanzten, sangen, sahen uns Videos an. Nach zwei Wochen des „Verlaufens“ verließen wir die Algarve, um unsere Proben in einem Studio in Lissabon fortzusetzen. Einige Veranstalter*innen aus dem Ausland kamen vorbei, die etwas von Veras neuem „work in progress“ sehen wollten. Da wir nichts vorzuweisen hatten, beschlossen wir, zu improvisieren, und jemand schlug vor, als Begleitung John Cages „Music for prepared piano“ auf CD abzuspielen. Wir legten los. Manchmal ergeben sich Dinge einfach von selbst, und jede*r spürt: „So soll es sein.“ Obwohl wir noch keine Ahnung hatten, was „es“ war. Eine Kamera filmte unsere Improvisation. Danach sahen wir uns das Video an und beschlossen, unsere Bewegungen genau nachzumachen. Aus dieser Improvisation wurden die ersten 30 Minuten von „The fall of an ego“.

 

Die Caldeirão Highlanders

Beim Betreten der Halle G fühle ich mich ein bisschen an ein Klassentreffen erinnert: Lächeln, Begrüßungsküsse von Freund*innen, Kolleg*innen, und, ob Sie’s glauben oder nicht, es ist herzerwärmend. Vera ist bereits auf der Bühne und sitzt auf einem Barhocker, vor ihr ein Notenständer, hinter ihr eine große Leinwand. Ich sitze direkt vor ihr. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Sie sieht mich, und wir blödeln ein bisschen ohne Worte. Sie tut so, als sei sie nervös. Ich weiß, dass sie nervös ist, aber ich weiß auch, dass ihr das nichts ausmacht. Sie spielt mit ihrer Nervosität. Das Licht geht aus. Vera beginnt im Dunkeln auf Portugiesisch zu singen. Ich habe sofort Tränen in den Augen. Ich habe eine große Schwäche für die Sprache (obwohl ich sie kaum verstehe). Es ist schon eine Weile her, seit ich Portugiesisch gehört habe, und außerdem: Vera kann singen. Sie hält einen hohlen Stamm auf dem Kopf. Es ist der Bast einer Korkeiche. Ab und zu denke ich während der Performance: „Wie hat sie es geschafft, das Ding auszuhöhlen?“ Ein Video beginnt: Bilder aus der Algarve, von einem fahrenden Auto aus aufgenommen. Das versetzt mich zurück ins Jahr 1997. Ich spüre den Wind durch das offene Fenster. Ich spüre die Hitze. Ich höre die Grillen. Ich rieche den Lavendel. Ich höre den Stimmen zu, portugiesischen Stimmen meiner Kolleg*innen. „Redet nur weiter“, denke ich, und meine Gedanken schweifen ab. Auf der Bühne beginnt Vera, das Video auf Englisch zu erklären. Sie spricht darüber, was sie an die Algarve geführt hat: die menschenleere Landschaft, die Stille, die Bergbewohner*innen, deren Arbeit (Landwirtschaft), deren (Un-)Glauben, deren Gesang, deren Gesang während der Arbeit. Wir bewegen uns hin und her zwischen Vera, die erzählt, und dem Anschauen kurzer Videos: alte Aufnahmen aus den 1920er-Jahren von Bergbewohner*innen – Männer und Frauen, die auf den Feldern singen und arbeiten; eine Frau, die mit dünner Stimme singt, während sie eine Tretmühle antreibt, um Wasser zu schöpfen; Frauen, die ihre Schafe hüten und mit Stimmen singen, die manchmal das Blöken der Schafe nachzuahmen scheinen. Das ganze Video hindurch wird gesungen. Vera erzählt von ihrem Wunsch, Singen mehr in unseren Alltag zu integrieren. Plötzlich taucht ein Foto von John Cage auf – das bringt mich aus der Fassung. Vera beschreibt, wie das Foto von John Cage plötzlich auf ihrem Computerbildschirm aufgetaucht ist, als sie gerade dabei war, Daten von ihrem alten auf ihren neuen Computer zu übertragen, einfach so. Sie entschied, John in die Performance einzubauen, wegen „Silence“[1], seines guten Spirits und der Tatsache, dass er aus heiterem Himmel aufgetaucht war. Man muss ein gutes Omen erkennen und zu schätzen wissen. (John lachte auf dem Foto.) Die Performance ging weiter, und alles war gut, vielleicht etwas zu gut. Alles war, wie soll ich sagen, Sie wissen schon: Vera war Vera – lebendig, ernsthaft, geistreich, scharfsinnig, aber die Sache wurde immer melancholischer, fast wie ein Pastiche. Ich wurde langsam misstrauisch. Irgendetwas Seltsames ging hier vor, und ich konnte es nicht so recht fassen, dass das Stück damit enden sollte, dass Vera nach dem Tanzen schließlich wie tot vor dem Bildschirm auf dem Boden lag. Über ihr ein Video, in dem zwei Männer, die wir zuvor bereits gesehen hatten, ein wunderschönes Lied sangen. Es war einfach zu perfekt für ein Ende. Und tatsächlich war es das nicht. Ja, das Licht ging aus, und es gab einen Schlussapplaus, aber als sie zum zweiten Mal zum Verbeugen wieder auf die Bühne kam, bot Vera sich Ruhe aus. Sie hatte eine Mitteilung zu machen.

 

Epilog

Text für ein Lied. Singen Sie den Song mit der Melodie und dem Rhythmus Ihrer Wahl, nehmen Sie ihn auf und senden Sie die Aufnahme an bibliothek@tqw.at. Alle Songs werden auf der TQW Website veröffentlicht. Vielen Dank!

 

tra-la-la

la-la-la

pomtipomti

pomtipomti

slipslap

slubiduwap

oh-oh-oh-oh-oh

 

(Wiederholen, bis Sie zu lachen beginnen)

 

PS: Ich weiß jetzt, wie der Stamm der Korkeiche ausgehöhlt wurde.

 

[1] John Cage schrieb ein Buch mit dem Titel „Silence“. In The Caldeirão Highlanders bezeichnet Vera Mantero ihn als den Erfinder der Stille, der aber gleichzeitig erklärte, dass es keine Stille gäbe.

 

Frans Poelstras Karriere als Tänzer begann im Alter von 25 Jahren. Im Lauf der Zeit ist aus ihm ein vielseitiger Performer geworden, der unaufhörlich das/sein Leben und die/seine Kunst mit all ihren Absurditäten, Verpflichtungen, Überraschungen, ihrer Theatralik, Verspieltheit, Langeweile, Peinlichkeit hinterfragt, und er hat immer noch Spaß an diesem Hinterfragen. Seit 2004 lebt und arbeitet er in Wien.

 

Alle Beiträge im TQW Magazin

Feedback unter magazin@tqw.at

 

 
Loading