TQW Magazin
Claire Lefèvre über S_P_I_T_ Tag 1

SPUCKE ZAUBERSPRÜCHE STACHELN

 

SPUCKE ZAUBERSPRÜCHE STACHELN

„Der Zustand von Queerness ist noch nicht erreicht. Queerness ist eine Idealität. Anders ausgedrückt: Wir sind noch nicht queer. Vielleicht werden wir Queerness nie erreichen, aber wir können sie als warmes Leuchten an einem Horizont voller Möglichkeiten spüren.“[1]

Sie steckt im Strahlen der Workshopteilnehmer*innen, die ins Foyer schweben, mit eingeölter Haut und Gesichtern voller Begeisterung.

Sie befindet sich in der Zeit, die wir warten, bis jemand auftaucht, weil es noch einen Moment dauert, bevor das Künstler*innengespräch beginnt. Und diesen unbeholfen-wertvoll-innigen Raum geduldig zusammenhalten.

Sie bedeutet, „mit Geilheit nicht als Gefühl, sondern als Material zu arbeiten“[2].

Sie liegt in der sanften Führung der Gastgeberin des Abends, die auf „Black transcestors“ (Schwarze Trans-Vorläufer*innen) verweist[3] und uns daran erinnert, dass sie es sind, denen wir diesen Moment zu verdanken haben.

Sie besteht in der gegebenen Möglichkeit, hinauszugehen, still zu verweilen, einen Weg ohne Treppe zu nehmen. Im Anbieten von Gratissekt und alkoholfreiem Bier.

Sie ist im Schreiben dieses Textes im Bett zu finden, wenn my love mir Muñoz-Zitate diktiert, während ich tippe, und die Spuren unserer Küsse immer noch über meine Haut schweben.

„Wir waren nie queer, und doch existiert Queerness für uns als eine Idealität, die wir aus der Vergangenheit destillieren und mit deren Hilfe wir uns eine Zukunft vorstellen können. Queerness wird in der Zukunft ihre Wirkung entfalten.“

Über die Gegenwart hinaus ins Metaversum.

Verzerrte Stimmen und bezaubernde Beats begrüßen uns in Tellurian Insider, einer trippig-farbenfrohen Geschichte über queere Widerständigkeit. Gestaltet haben diese audiovisuelle, magnetosphärische Ritual-Klang-Performance, in der herzerschütternder Bass und unaufdringlich-elegante Grafik miteinander verschmelzen, die selbsternannten digitalen Hexen Jagoda Wójtowicz (Flore) und Marta Nawrot (Xenon), auch als Kunstduo Eternal Engine bekannt. Insiderin eins und Insiderin zwei laden Fürsorglichkeit in den harten Kern einer symmetrischen Apokalypse und öffnen Portale in den Sub(-woofer-)raum. Pulsierender Acid-Sound und brodelnde Vulkane gießen Zaubersprüche ins nebelgeschwängerte Studio. In diesem radioaktivistischen Science-Fiction-Spektakel leuchtet „STAND WITH UKRAINE“ an der Wand und treibt den Aufstand von der Rave-Höhle in den „white cube“. Motherboard trifft auf Mutter Erde, wild geflochtene Verstrickungen verweben Neonbiester und Batikroboter. Das multisensorische Stück kreischt in eine Leere, in der früher einmal die Sonne gebrannt hat, und behutsam gestreichelte Tastaturen und die liebevollsten Eigenarten kommen auch vor. Queere Zukünfte sind nicht einfach strahlend – sie sind stroboskopisch.

„Einige werden sagen, dass wir nur die Freuden dieses Augenblicks haben, aber wir dürfen uns niemals mit diesem minimalen Entzücken zufriedengeben; wir müssen neue und bessere Freuden, andere Arten des Seins in der Welt und letztlich neue Welten träumen und umsetzen. Queerness ist das, was uns spüren lässt, dass diese Welt nicht ausreicht, dass tatsächlich etwas fehlt.“

Und so bemühen wir uns, neue Welten zu erfinden. Grenzen zum Schmelzen zu bringen und Normen zu verflüssigen.

Mouth as wetland von Christa.l Wall aka LA_X_FonTAEnI ist eine Ode an diese Fluidität. Eine gurgelnde Meerjungfrau summt polyphone Gesänge, während sie*er durch eine viskose Landschaft gleitet. Sie*Er badet in einem phosphoreszierenden grünen Schimmer und gleitet in und aus einer gallertartigen Membran, die die Bühne bedeckt. Sie*Er braut dampfende Tränke und fällt in Kaskaden heimtückische Rutschen hinunter. In ständigem Wandel schwankt sie*er zwischen flüssig und fest, immer gelartig. Ein Brunnen läuft über. Plastikbecken gebären glitschige Tänze. Kehlige Loops triefen in schnulzige Melodien. „Make a wish against dryness“ tröpfelt es in verzauberte Ohren, ein honigsüßer Spritzer nach dem anderen.

„Oft können wir einen Blick auf die Welten, die uns die Queerness anbietet und verspricht, im Bereich der Ästhetik erhaschen. Ästhetik, vor allem queere Ästhetik, hält immer wieder Konzepte und Ideen einer vorwärts dämmernden Zukünftigkeit bereit. Sowohl das Ornamentale als auch das Alltägliche können einen Entwurf der Utopie von Queerness in sich tragen.“

Die Utopie wird greifbar, wenn die versammelte Menge jubelt, als sie Eve Stainton mit einem Bohrer in der Hand sieht.

In Dykegeist verschmelzen ornamentale und alltägliche queere Ästhetik zu einem Fest der Sinne: Mit Klebeband versehene Mikros verstärken den stolzierenden Gang in chunky Sneakers, eine Silberkette schwingt im Rhythmus von harten Beats und sanften Atemzügen, Finger tunken verführerisch in Haargel ein, um schlabbrige Stachel zu formen. Reißverschlüsse, Schnallen und baumelnde Spanngurte erweitern den Körper der*des Performer*in zu einem Exoskelett: Gepanzert und begurtet wird sie*er zur Superdyke. Die einvernehmlich-sinnliche Dramaturgie lädt das Publikum ein, Teil dieser Saga zu werden: Für einen Moment der Verhandlung hebt Eve ihre*seine Raver-Sonnenbrille und flüstert den beteiligten Zuschauer*innen klare Anweisungen zu. Einige werden aufgefordert, Gegenstände aus Kieshaufen auszugraben, andere, über die Bühne zu kriechen. Das Um-Erlaubnis-Fragen ermöglicht freigiebige, feuchtheiße Begegnungen in einer sicheren Umgebung, die die Zuschauer*innen mit unerwarteten Umarmungen, charmanter Unzulänglichkeit und dem aufregenden Potenzial an ersehnter Nähe reizen.

Queerness steckt in diesen zarten Momenten kollektiver Feuchtigkeit.
Sie verbirgt sich in leuchtenden Schriften, die in große Institutionen sickern.
Sie befindet sich in den Störimpulsen – noch nicht wirklich verfügbar, aber immer schon vorhanden.

 

[1] Alle fett gedruckten Zitate stammen aus Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity von José Esteban Muñoz, zitiert von Hyo Lee im Zuge des Künstler*innengesprächs.
[2] Veza Fernández in einer der Rauchpausen mit Eindrücken aus dem Sweat Spills Spit-Workshop.
[3] Joela Rivera, zitiert von Jolanda Helena Resch in ihrer Begrüßungsrede.

 

Claire Lefèvre ist feministische Choreografin, schlaflose Autorin und begeisterte Reality-TV-Seherin; derzeit lebt und arbeitet sie in Wien. Sie versteht sich als Gastgeberin, die Kooperationspartner*innen und Zuschauer*innen in Kitschlandschaften willkommen heißt, in denen Politik und Poetik behutsam miteinander verflochten sind. Seit drei Jahren beschäftigt sie sich mit dem Konzept radikaler Sanftheit als choreografischer Strategie und verwendet Überempfindlichkeit als Methode, Gegenstand und Zugang für die Konzeption ihrer Arbeiten und der Arbeit als solcher. clairelefevre.com @clairelefevre.heartemoji

 

 
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