TQW Magazin
Janhavi Dhamankar über TARAB von Ulduz Ahmadzadeh / ATASH عطش contemporary dance company

Eine Bewegung für „Frauen, Leben, Freiheit!“

 

Eine Bewegung für „Frauen, Leben, Freiheit!“

Tarab.
In meiner Unwissenheit hört sich das so ähnlich an wie tadap (Hindi für Sehnsucht, Verlangen).

Tarab. „Wenn ein Körper von der Musik ergriffen und die körperliche Empfindung gesteigert wird. Unerschlossenes und an manchen Orten verbotenes Bewegungsmaterial und ausgefallene rhythmische Muster aus dem vorislamischen kulturellen Erbe des Nahen Ostens. Tanz- und Musikmaterial, das mehrfach eurokolonialen und islamischen Übersetzungen unterzogen wurde, die Frauen von ihrer ursprünglichen Rolle als Hauptvertreterinnen entweder auf sexualisierte orientalische Entertainment-Tänzerinnen reduzierten oder ihnen das Praktizieren überhaupt untersagten.“ Das entnehme ich dem Programmheft.

Tarab. Meine erste zeitgenössische Tanzperformance-Erfahrung. Und das erste Mal, dass ich eine Aufführung von einem Sitzplatz auf der Bühne aus erlebe. Eine bessere Einführung in den zeitgenössischen Tanz hätte ich mir nicht wünschen können.

Tarab. Ein Zelebrieren von Rhythmus und Bewegung. Ein verkörperter und künstlerischer Ansatz. Eine Art bezauberndes Zusammenspiel aus den damit einhergehenden Lichtern, Nebel, Kostümen, Quasten, um die Sinne des Publikums zu wecken und sie möglicherweise sogar zu erweitern. Aufgrund meiner Ausbildung in indischem Tanz begreife ich das als eine Art Daivi Siddhi – einen Zustand der Sprachlosigkeit, den das Publikum erlebt, ein Gefühl der Einheit mit dem Göttlichen, eine Bravourleistung, zu der nur wenige Meister*innen der Tanzkunst imstande sind. Aber anstatt mich vom Körper zu entfernen oder ihn (gemäß der dem klassischen indischen Tanz zugrunde liegenden Philosophie) wie einen unbedeutenderen Zwilling des intellektuellen Prozesses zu behandeln, genieße ich es, in meiner sinnlichen Erfahrung verhaftet zu sein, der verkörperten Darbietung, die gerade stattfindet, all meine Aufmerksamkeit zu schenken und mir Raum und Zeit zu geben, diese fremdartigen und gleichzeitig irgendwie vertrauten Bewegungen zu fühlen.

Tarab. Meine erste explizite Erfahrung mit kinästhetischer Empathie. Beim Lesen darüber im Rahmen meiner eigenen Forschungstätigkeit schien es mir unzureichend, Empathie anhand von Spiegelneuronen erklären zu wollen. Aber Tarab eröffnet mir eine kinästhetische Wahrnehmung, die ich noch nie zuvor empfunden habe: Zu Beginn des Stücks fühle ich mich, als wäre ich ein Teil des kollektiven Atmens und spüre, dass ich atemlos werde, als es an Intensität zunimmt, in eine rituelle Trance und schließlich in Raserei übergeht. Ich bleibe in einem ästhetisierten (gemäß Shelley Sacks im Gegensatz zu anästhesiert) Zustand bis zum abschließenden Hagelschauer. Noch nie haben sich 75 Minuten so sensationell sinnlich angefühlt!

Tarab. So eine reiche Bewegungssprache. Ich entdecke wieder Parallelen zu dem mir bekannten Bewegungsvokabular: Die Voguing-Passagen erinnern mich an die skulpturalen Posen in Odissi, volkstümliche Anklänge mit Schulterbewegungen rufen die Ausgelassenheit von Bhangda ins Gedächtnis, kräftige Kicks und Drehungen lassen mich an das Kampfkunstvokabular von Chhau denken. Aber ich versuche, diese Bewegungen nicht zu kategorisieren und ihre ursprüngliche Charakteristik mit der zusätzlichen Ebene, die ihnen der Perkussionist Mohammad Reza Mortazavi verleiht, einfach zu genießen.

Tarab. Durch das Trommeln verbunden. Mir scheint, als ob eine der Tänzerinnen auf subtile Weise per Augenkontakt mit dem Musiker kommuniziert.
Ich nehme 6 Schläge wahr – Dhuum chuk chuk, dhuum chuk chuk
und dann 7 – Ta ki ta, ta ka, di mi

Die verschiedenen Trommeln verleihen den Szenen unterschiedliche Noten: einerseits Volkstümlichkeit, was ein Gefühl der Synchronität wie in einer Gemeinschaft vermittelt; andererseits stammeskulturelle Elemente, begleitet vom Gesang der Tänzer*innen; oder ein donnerndes Gewitter, von den Tänzer*innen durch großartiges Herumwirbeln und Drehen verkörpert.

Tarab. Ein „glokaler Dialog über Feminismus“. Woher stammen diese Bewegungen? Was ist das Ethos jeder einzelnen Bewegung? Womit sind all die feingeschliffenen Bewegungsphrasen aufgeladen, jede einzelne Geste als Teil einer kulturellen Praxis, die sie so wunderschön machen? Ich bin hungrig nach mehr … mehr Informationen, mehr Bewegung. Ich muss mich zurückhalten, um nicht aufzustehen und die Bewegung mitzutanzen.

Tarab. Ein hypnotisierendes Gefühl des gesteigerten Bewusstseins, von einer wunderbaren Ruhe durchflutet zu sein.

 

 

Janhavi Dhamankar ist eine indische klassische Tänzerin und Lehrerin (Odissi), künstlerische Forscherin und Praktikerin der sozialen Plastik. Sie entwirft und präsentiert in der aktuellen Forschungsarbeit zur ihrer Dissertation „Empathiepraktiken“, um zu untersuchen, wie wir soziale Interaktion an sich als ein Kunstwerk betrachten können, um die „Mehrheitsgesellschaft“ neu zu denken. Sie unterrichtet Odissi, indischen Volks- und Bollywoodtanz in Wien, hat in Indien Philosophie (einschließlich Ästhetik und Ethik) gelehrt und leitet Bewegungsworkshops in Indien und Europa. janhavidhamankar.com | @kunst_janhavi (instagram)

 

 
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