TQW Magazin
Felicia McCarren über Hedera Helix von Elizabeth Ward

Tanzend eine Landschaft gestalten 

 

Tanzend eine Landschaft gestalten 

Vor meinem Fenster hier in Wien steht ein großer Nadelbaum, und ich frage mich, was er alles weiß. Nicht nur die Dinge, über die die meisten Bäume Bescheid wissen: wie man Unterschlupf gewährt, Schutz bietet, Ruhe – Sauerstoff! Sondern dieser große Baum zwischen Westbahnstraße und Seidengasse, der sehr alt sein muss, könnte mir etwas über das Wien einer anderen Zeit erzählen. Über die Vergangenheit sowieso, aber auch die Gegenwart, vielleicht sogar die Zukunft. Er scheint mehrere Arten von Zeit in sich zu tragen, die über die einkaufenden Menschen hinausweisen, die unter ihm kommen und gehen, und sich auf einen Feiertag vorbereiten, der etwas mit der Sonnenwende zu tun hat, und mit Nadelbäumen.
Die Tänzer*innen in Elizabeth Wards Choreografie, die nach dem Efeugewächs benannt ist, das sein Ökosystem vergiften oder ihm nutzen kann, machen uns ein Geschenk. Sie tanzen sich selbst, ohne Pomp – sie tragen ihr eigenes Gewand, selbst wenn sie in die Kostüme oder Charaktere schlüpfen, die nur durch Bewegung entstehen. Sie interpretieren Barock-, Step- oder Disco- gemeinsam mit den postmodernen Tanzformen, mit deren Hilfe sie graben, Wurzeln schlagen, wachsen, blühen und gedeihen in dem hellen wie dunklen (Zeit-)Raum von einer Stunde. Das Stück versetzt uns voll und ganz ins Pflanzesein – Pflanzewerden – und geht dabei über bloßes Imitieren oder Darstellen von Pflanzen hinaus. 

Sind wir, das Publikum, in der Lage, die Vielfältigkeit in Körpern zu erkennen, wie wir es bei Pflanzen können? Nicht nur das, was im Englischen als garden variety bezeichnet wird und „gewöhnlich“ bedeutet, sondern die Bühne, den Theaterraum der Natur gegenüber zu öffnen, die überall ist – drinnen wie draußen. Die Kunst der Choreografin besteht darin, die verschiedenen hier versammelten Körper zu hegen – eigenständige Tanzschaffende, die unterschiedliche Stile in das Stück einbringen – alle mit ihrem persönlichem Gewicht, ihren An- und Entspannungen. Die Augenblicke, in denen diese Körper Sympathien erzeugen (indem sie ohne Berührung Kraft ausüben) oder ihre Kräfte bündeln und vor urwüchsiger Energie strotzen, werden zu besonderen Ereignissen. Etwas passiert; die Natur, die wir uns als draußen befindlich vorstellen, dringt in den Theaterraum ein. 

Die Choreografie versorgt uns mit Pflanzenerzählungen, manipuliert dabei aber weder ihre Darsteller*innen noch ihr Publikum, etwas Bestimmtes zu sehen. Indem mir das Stück zur Betrachtung angeboten wird, ohne mir etwas aufs Auge zu drücken, sehe ich verschiedene Tropismen (winzige Bewegungen zum Licht hin, das eine unweigerliche Anziehungskraft ausübt); des Weiteren sehe ich das Parterre (in Gärten wie auch im barocken Ballett); ich sehe die Himmelsrichtungen und die kosmische Bewegung der Gestirne; ich sehe, wie die sprießenden Samenkapseln zucken und sich winden.
Das Stück legt diese Elemente nicht fest, sondern erkundet sie, scheint sie geradezu zu veranschaulichen, und bleibt dabei frei von der Last der Repräsentation. Es schafft einen Raum, in dem Natur stattfinden kann. 

Die Tänzer*innen selbst blühen in diesem Umfeld auf. Sie tanzen nicht für uns, sondern irgendwie mit uns. Da gibt es kein Muskelspiel, keine Show, nichts Überflüssiges. Ich würde gerne sagen, dass ich zum Zeitpunkt einer Tanzrevolution wieder in New York in der Judson Church bin – aber ich in Wien, im Jahr 2022. Eine bestimmte Form von avantgardistischem Tanz, dem im vorigen Jahrhundert kriegsbedingt ein vorläufiges Ende gesetzt wurde, schlägt hier Wurzeln. Dieses Stück, von einer Choreografin konzipiert, die von anderswo stammt und sich hierher verpflanzt hat, hat während des Covid-Lockdowns zu keimen begonnen. Es ist in einem Garten entstanden. Es ruft die vielen Gärten in Erinnerung, in denen die Choreografin jahrelang tätig war, und ihr Wissen über Abläufe und Abfolgen im Umgang mit Pflanzen. 

Ohne Worte sind die Tänzer*innen der Flora und Fauna näher, die sie traditionell oft auf der Bühne darstellen. In dieser Choreografie machen sie sich Tanzstile zu eigen, durch die sie in ihrer individuellen und kollektiven Bewegung Vorstellungen und Gestaltungsformen von Natur wie auch Naturgewalten verkörpern. 

Das Choreografieren von Pflanzen bietet uns einen alternativen Ansatz, Geschichte zu denken. Das Stücks bringt uns dazu, über die Auswirkungen des Prinzips Herrschaft auf das aktuelle geologische Zeitalter nachzudenken, das manchmal auch als Plantagenozän bezeichnet wird, also die Entwicklung hin zu Monokultur in Form von Plantagen. Wir sehen die Möglichkeiten alternativer Pflanzenerzählungen, die überall auf der Welt gediehen sind und nicht auf das Prinzip Herrschaft angewiesen waren.
Auch unsere Gegenwart können wir anhand von Pflanzen neu denken: Welche Entscheidungen treffen wir, in der Stadt? In Wien gibt es überall, wo ich unterwegs bin, Hinweisschilder zum Thema pflanzliche Lebensmittel und pflanzliche Materialien, aus denen Taschen und Kleidungsstücke hergestellt werden. Das Prinzip Herrschaft ist hier in die Umgebung integriert, wird aber in Frage gestellt, analysiert, neu definiert. 

Pflanzen bestimmen auch, wie wir die Zukunft sehen. Sie haben unsere Welt geschaffen; ohne sie können wir auf diesem Planeten nicht leben. Irgendwo in der Vergangenheit waren auch sie unser gemeinsamer Vorfahr – am Ursprung des Lebens. Und sie helfen uns zu verstehen, dass dieser Planet verschiedene Formen von Zeit hat, verschiedene Zukünfte, von denen nicht alle chronologisch sind.
Hedera helix vermittelt dem Publikum all diese Ideen. Es ist ein zeitgemäßes Stück – eines der ersten, die aus dem Kokon von Covid hervorgegangen sind. Und seine Magie besteht darin, mithilfe von Tanz verschiedene Arten von Zeit für uns sichtbar zu machen, parallele Welten des Wachstums und des Verfalls, die wir vielleicht erst zu dem Zeitpunkt zu beobachten begonnen haben, als die Welt langsamer wurde und sich verändert hat. Nach denen wir, wie uns jetzt vielleicht bewusster ist, Ausschau halten sollten. 

 

 

Felicia McCarren hat vier Bücher über Tanz geschrieben, zuletzt One Dead at the Paris Opera Ballet: La Source 1866–2014. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin für Französisch an der Tulane University in New Orleans ist sie derzeit Leverhulme Visiting Professor an der Universität Oxford (2022–23) und übernimmt im Frühjahr 2023 den Fulbright-Tocqueville-Lehrstuhl an der EHESS Paris. 

 
Loading