TQW Magazin
Julischka Stengele über S_P_I_T_ Tag 1: Flávia Mudesto, Leandro Barros, Stella Myraf & Theo Emil Krausz, Rebecca Merlic

 

S_P_I_T_ ist der Titel des Formats, doch die Körperflüssigkeit des Abends ist eine andere. Die vierte Ausgabe des Festivals beginnt erstmals schon vor der Eingangstür des Tanzquartier Wien. Ich und die vielen anderen schweißverklebten Menschen, die es durch die schwüle Hitze der Stadt hierher geschafft haben, stehen nun in der Passage und freuen sich über die erste, unverhoffte Choreografie des Abends: das laue Lüftchen, das hier durchfegt und uns etwas Abkühlung verschafft.

Der Wind trägt aber noch mehr Gutes mit sich, nämlich den süßen Duft gebratener Zwiebeln. Von einer herzlichen Umarmung zur anderen und einem kurzen Pläuschchen zum nächsten bahne ich mir Stück für Stück den Weg zu dessen Quelle und komme vor einem Wagen mit freundlichen Gesichtern hinter silbernen Wärmebehältern zu stehen. Eat Meat Politically heißt das Projekt von Flávia Mudesto.

Ich bin ja eine, der der Appetit immer sofort vergeht, wenn Essen moralisiert wird. Die Antworten und Gegenmaßnahmen zu systemischen Problemen wie industrielle Massenproduktion und Ausbeutung von Erde, Mensch und Tier finden sich nicht auf den Tellern einzelner Konsument*innen und bei ihren Kaufentscheidungen. Zudem versteckt sich, wie so oft, auch in diesem Gedankengang eine verkappte Klassenfrage: Fleischersatzprodukte sind oft doppelt so teuer wie Fleisch. Aber das soll heute niemandes Sorge sein, denn tatsächlich werden wir gratis verköstigt! Das nenne ich ein politisches Statement!

Vleischlaberl, frischer Salat, Semmeln, vegane Mayo – die Köchin, das kuratorische Team von S_P_I_T_ und die Mitarbeiter*innen des TQW sorgen gut für uns. Als ich Flávia nach dem Anteil ihres auf dem Schild ausgewiesenen Kollaborateurs André Rachadel frage, sagt sie als Erstes: „Emotional support.“ Erst danach kommt: „And help with cooking. Cutting and things.“ Der charmante Essensstand trägt zusammen mit den kühlen Getränken und der alles stark verlangsamenden Sommerhitze zu der betont entspannten Stimmung vor Ort bei. Die erste Stunde des Festivals ist nur dafür da: ankommen, runterkommen, essen, trinken, plaudern. Schön ist das, ich fühle mich wohl.

Der Publikumsdienst informiert uns, dass es langsam Zeit sei, sich nach oben zu begeben.

In Studio 2 startet das Bühnenprogramm des Abends mit einem Drag-Opener. Ein Maximum an queerer Sichtbarkeit zu erreichen ist eines der Anliegen des Festivals, wie im kuratorischen Statement von Denise Kottlett und Lisa Holzinger zu lesen ist. Gesehen werden, wahrgenommen werden als Menschen und Individuen in all ihrer Komplexität ist ein Grundbedürfnis, das wir alle teilen. Manchen wird dies mehr zugestanden als anderen. Das Bestreben, mittels programmatischer Entscheidungen für Ausgleich sorgen zu wollen, ist nachvollziehbar. Doch ist erhöhte Sichtbarkeit per se etwas Gutes? Oder gar gleichzusetzen mit Befreiung? In einem gesellschaftlichen Klima, in dem unfreiwillige Exponiertheit aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes für manche Personen potenziell gefährlich sein kann, ist eine noch höhere Sichtbarkeit nicht immer wünschenswert. Interessanterweise ist es jedoch oftmals gerade der bewusste Schritt ins Rampenlicht, die Bühne die den besten Schutzraum bietet. Und darüber hinaus die Möglichkeit für eine selbstbestimmte Sichtbarkeit.

Vor dem Hintergrund der aktuell massiven Repressionen, die Dragqueens auch in Österreich erfahren, die auf dem Radar von gewaltbereiten rechtsextremen Gruppierungen aufgetaucht sind, ist die kuratorische Setzung, den ersten Tag des Queer Performance Festival Vienna mit einem Drag-Act zu eröffnen, als klares politisches Statement zu sehen.

Zu Beginn von Madame Léas (Leandro Barros) Performance Madame Léa and the Mask hören wir verschiedene Radiosequenzen mit queerfeindlichen Aussagen, die ebenjenes Klima skizzieren. Die Einspielungen bilden den Kontext für den performativen Widerstand. Der kommt elegant, trilingual und in technischer Perfektion daher. Die scharfen Krallen der „brown goddess“, wie sich Madame Léa selbst nennt, funkeln im Blaulicht der Polizeisirene. Sie singt: „This is my voice, my weapon of choice“, und es geht mir runter wie Öl. Yasss Queen!
In meinem Kopf erscheinen die Worte der Schwarzen lesbischen Autorin Audre Lorde aus ihrem EssayThe Transformation of Silence into Language and Action“: „I was going to die, sooner or later, whether or not I had even spoken myself. My silences had not protected me. Your silences will not protect you…. What are the words you do not yet have? What are the tyrannies you swallow day by day and attempt to make your own, until you will sicken and die of them, still in silence?“

Denise animierte uns in ihrer Anmoderation dazu, großzügig mit unserem Applaus zu sein. Als Publikum lassen wir uns das nicht zweimal sagen.

Zur Verdauung werden wir jetzt erst mal wieder in die Pause geschickt. Ganze 40 Minuten haben wir Zeit zu reden, zu rauchen, zu trinken, zu essen und uns in Geselligkeit zu üben. Danach geht es weiter mit Off track, where it gets turbid, der Performance von Stella Myraf und Theo Emil Krausz. Auf der Bühne sind ein mobiles Friseurwaschbecken und ein paar Kleidungsstücke platziert. Die beiden Performer*innen betreten den Raum mit einer scheinbar gleichgültigen Haltung, dem Publikum wird erst mal keine Beachtung geschenkt. Sie sind ganz auf sich selbst konzentriert. Der erste Moment, der mir ein zufriedenes Lächeln ins Gesicht zaubert, passiert bei einer Umkleideszene: Die beiden stehen sich mit freiem Oberkörper gegenüber. Einer ist flach, einer hat Brüste. Die Person mit dem flachen Oberkörper zieht der anderen ein Bustier über. Hmpf. Dass Brustwarzen, je nachdem zu wem sie gehören, gesellschaftlich so unterschiedlich bewertet werden, nervt längst nicht nur auf Instagram. Nun bekommt auch die Person mit der flachen Brust ein Bustier übergezogen. Ich schmunzle und freue mich. Wir sind bei S_P_I_T_ hier werden Dinge anders gemacht.

Die Haare werden gewaschen und gegelt, die Kleidung wird zurechtgezupft, alles jeweils in Stille gespiegelt. Die Ausführung der Gesten wirkt teilweise fast grob auf mich, aber auch vertraut, wie unter Geschwistern. BÄM!!!, plötzlich sind wir vom Friseursalon im Club gelandet. Es ist laut, die Beats hämmern rein, das Licht flackert, die beiden gehen krass ab. „Running against forces, rage against the machine“ (nicht die Band, sondern das Gefühl, die Strategie) kommt mir in den Sinn. Aber auch mein Alter und mein eigenes Energielevel. Ich sitze mit meinem müden Körper auf dem Stuhl, den mir das Tanzquartier-Team extra bereitgestellt hat. Auf dem Boden oder dem niedrigen Podest ohne Rückenlehne sitzen – diese Zeiten sind vorbei. Dank des Sessels kann ich meine Aufmerksamkeit der Performance statt meiner Lendenwirbelsäule widmen.

Ich glaube, das letzte Mal, dass ich annähernd so abgegangen bin, war Anfang der 2000er-Jahre auf XTC in irgendwelchen deutschen Techno-Schuppen. Eine meiner Freund*innen lernte ich bei einem Friseurbesuch kennen. Sie war in der Ausbildung und brauchte ein kostenloses Modell. Wir verstanden uns auf Anhieb und gingen nach Feierabend direkt von dort zusammen in den Club. Wir bewunderten gegenseitig unsere Piercings, sprachen über die Wichtigkeit von Kondomen bei Analsex und versorgten uns gegenseitig mit Wasser, während wir uns die Seele aus dem Leib tanzten.

Währenddessen verausgaben sich die Performer*innen auf der Bühne. Ihre energischen High-Speed-Bewegungen werden immer nur kurz für einen der zahlreichen Kleider- und Schuhwechsel unterbrochen. Es ist ein Spiel mit androgyner Ästhetik, den jeweiligen körperlichen Ausdruck der beiden formt. „Kleider machen Leute, Kleider machen Moods, Kleider machen Moves“, denke ich. Am Ende bleibt ein Bühnenbild wie ein Jugendzimmer: Der Boden ist übersät mit im Gehen abgelegten Kleidungsstücken. Was interessiert mich heute noch, wer ich gestern war?

Die Geschichte der Clubkultur ist nicht nur untrennbar mit queerer Kultur, sondern auch mit Arbeiter*innenkultur verbunden. Als Wandlerin zwischen den Welten bleibt mir nicht verborgen, dass der Tanz und seine Ästhetiken aus einem akademischen Umfeld stammen; auch wenn er hier, in einem Haus der sogenannten Hochkultur, auf Praktiken und Wirkstätten von Arbeiter*innen referiert.

Nach dieser schweißtreibenden Darbietung gibt es eine 20-minütige Pause. Kurz raus, frische Luft schnappen, vielleicht noch mal eines der drei Gerichte von Flávias Stand verkosten, und weiter geht’s zur letzten Performance des Abends: GLITCHBODIES GAME SHOW von Rebecca Merlic.

Die Eröffnungsszene: Eine Gamerin kniet auf einem kleinen Podest und greift sich den Joystick. Auf der großen Projektionsfläche an der Wand erscheint eine Gruppe von Avataren, in deren Welten wir gleich eintauchen werden. Virtuell und live auf der Bühne. Alle sind Akteur*innen der queeren Performance- und Nightlife-Szene Wiens, die am Homescreen wie in transparenter Folie eingeschweißt erscheinen.

Es gibt einiges, das mich an dieser ungewöhnlichen Arbeit fasziniert hat. Ich fange hiermit an: Kollaboration ist etwas, das in Wien eher kleingeschrieben wird. Häuserübergreifende, szenenübergreifende Zusammenarbeit kommt selten vor. Dass dem nicht so sein muss und wie cool die Ergebnisse sein können, zeigt uns Merlic in ihrem „queer and feminist futurist digital space“. Während wir auf dem Screen in verschiedene Levels einsteigen, die Wiener Initiativen wie z. B. Haus of Rausch oder Wer ist dichter? abbilden, erscheinen nacheinander die Performer*innen Annemarie Arzberger, Alexandru Cosarca, Susie Flowers, Marie Luise Lehner, Danielle Pamp, Tony Renaissance und Sheezus und beglücken uns mit ihren Solos. Parallel zu den einzelnen Darbietungen auf der Bühne – vor allem Lieder und Gedichte, mal in Drag, mal nicht – führt uns die Gamerin durch die jeweils zugehörige (innere?) virtuelle Welt. Ich bin von jeder einzelnen verzaubert. Besonders berührt mich der Text von Marie Luise Lehner. Zu einer Landschaft aus wabernden Brüsten und Nippeln lauschen wir einer Art Autoethnografie von Lehners Busen.

Motherly Care ist eines der Stichworte, die ich im Nachhinein in der kurzen Beschreibung von Merlics Arbeit lese. Fürsorglichkeit, ganz losgelöst von geschlechtlicher Zuordnung, ist für mich das Stichwort, das die Atmosphäre dieses ersten Festivalabends beschreibt. Das und Gemeinschaftlichkeit. Danke dafür.

 

Julischka Stengele lebt in Wien und agiert international als Künstlerin, Performanceschaffende, Kuratorin, Textproduzentin und Lehrende.

 
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