„This Is Living Rent Free in My Head“
Wer Aufmerksamkeit erzeugt, besitzt ein Stück Eigentum in den Köpfen des Publikums, wie das eingangs zitierte Meme selbstreferenziell deutlich macht, während es auf Obsessionen, aber auch auf Fragen von Besitz hinweist. Es bringt auf den Punkt, dass Aufmerksamkeit, die sowohl kollektiv wie hybrid ist, zu den wichtigsten Währungen der durch Prekarität geprägten Gegenwart zählt.
Virale Inhalte, aber auch die COVID-19-Pandemie haben laut Kunsthistorikerin Claire Bishop, die sich in ihrem letzten Buch Disordered Attention (Verso Books, 2024) ganz der Aufmerksamkeit widmet, ein neues, akzeleriertes und inkohärentes Modell des Betrachtens – auch abseits des Screens – entfacht, das auf Geschwindigkeit statt Tiefe beruht. Sie weist die binäre und disziplinarische Aufteilung von Aufmerksamkeit und Ablenkung zurück und plädiert dafür, dass sich zeitgenössische Kunstproduktionen der Herausforderung annehmen müssen, mit diesen neuen (Seh-)Gewohnheiten zu interagieren.
Rakete versucht daher, einen Ausschnitt künstlerischer Strategien zu versammeln, die sich nicht von der Doomscroll-Logik paralysieren lassen und mit Tanz, Sound, Stimme und Text als choreografisches, performatives sowie bildnerisches Material arbeiten. Es zeigt sich ein diebischer Spaß, aber auch eine Dringlichkeit, Präsenz auf der Bühne durch Abstraktion, Humor, aber auch Vertrautheit zu erzeugen.
Jakob Wittkowsky eröffnet das Festival mit seinem Solo dragonfly, das auch seine Abschlussarbeit an der SNDO war. Unter einem grellen Arbeitslicht, das kein Verstecken zulässt, verausgabt er sich, fast ohne ersichtlichen Grund, mal präzise tänzerisch, mal dadaistisch-clownesk. Sein Körper scheint ganz weich, elastisch an diesem Arbeitsplatz, der eigentlich Disziplin zu fordern scheint. Stattdessen werden Messinstrumente, Mikrofone, Klemmen und Klebebänder zweckentfremdet und zu widerspenstigen Mitspieler*innen. Dieser in seiner Banalität schon fast dystopische Ort, dessen Aufgabe wohl ist, die Verhältnisse zu zementieren, wird gehackt: Jakobs körperliche Goofyness konfrontiert mit viel Leichtigkeit, unter der immer auch Protest schlummert, Produktionszwänge und Gouvernementalität. Auch wenn der Ausbruch hoffnungslos erscheinen mag, Ungehorsamkeit und Unfug sind eventuell die besten Strategien für den alltäglichen Aufstand, der niemals aufgegeben werden sollte.
Die Katastrophe hat schließlich bereits in der Vergangenheit stattgefunden, ohne ein spektakuläres Ereignis gewesen zu sein – absolut losgelöst von der Gegenwart, diagnostizierte der Kulturwissenschaftler Mark Fisher. In diesen zukünftigen Ruinen bringt Netti Nügangen, selbstdeklarierte Doomerin, mit Pire Sova und KISLING eine Eismanufaktur auf die Bühne. Das Abschmelzen der Eisblöcke unterstreicht die Künstlichkeit des Theaterraums. Dieser ist ein Ort der Versammlung von Regeln, aber auch ein Container, der das Zusammentreffen von intuitiv Gegensätzlichem ermöglicht; ein Interesse, das sich durch Nettis Arbeit zieht. Und so prallt hier die Dark Ecology des Black Metal auf Country-Folklore, Endzeitalbtraum auf skurrilen Humor, großes Epos auf Alltagsnarration, eingebettet in den Warenkreislauf der Aufmerksamkeit. Auch das Lokale, Authentische ist schon längst kommodifiziert worden, und so erscheint diese Künstlichkeit als Strategie, um durch die Konsequenzen der Katastrophe(n) zu navigieren – um Geografie und Geologie körperlich erfahrbar zu machen. In Ash, horizon, riding a house intensiviert durch die Soundkulisse, in der CDJs zu Instrumenten und Nettis extrem schnelles, repetitives Sprechen zum Klangkörper werden.
Auch Abigail Aleksander und Mary Szydłowska befragen in SKINFOLD danach, was es bedeutet, einen Körper zu bewohnen. Als performative Praxis, die choreografische Strategien für die Entfaltung und Verfremdung des eigenen Körpers entwickelt, verwandelt das Stück verinnerlichte Landschaften in sanfte Choreografien der Transformation. Wir als Zuschauer*innen werden Teil dieser Landschaft, kuscheln uns in Sitzkissen, liegen auf dem Boden, schließen die Augen, um den Texten von Monique Wittig zu lauschen. Statt Dekonstruktion „Repairing“. Abigails und Marys Präsenz erschafft einen Raum, der von Intimität geprägt ist und Erwartungshaltungen an Körper und Verhaltensweisen ablegt. Die Zeit verfliegt. Jeder Atemzug wird spürbar. Wir dürfen abschweifen, träumen, wiederkommen, an ihren Lippen hängen oder ganz genau beobachten. Währenddessen verändert sich unser Gaze auf alle Körper oder besser gesagt auf die Ansammlung von Hautfalten im Raum.
Ein Ortswechsel in den urbanen Raum, wo in dieser mitternächtlichen Atmosphäre die Luft zum Schneiden dick scheint. Chiara Bartl-Salvi richtet in Heat Island ihren – und unseren – Blick auf den Boden, macht ihn zum aktiven Partner statt zum passiven Podest. Mit präparierten Schuhen schürft Chiara gemeinsam mit ihren Co-Performerinnen Chihiro Araki und Elena Francalanci über den Asphalt und lässt Funken sprühen, ohne sich in Effekthascherei zu verlieren. Die von TikTok und Musikvideos inspirierten Tänze doppeln sich, nicht nur auf der Bühne, sondern auch auf einer schwarzen Folie gespiegelt auf der Bodenoberfläche. Chiara, die sich schon länger mit der Schnittstelle von Klang und Bewegung beschäftigt, tappt mit diesen Doppelungen und popkulturellen Zitaten nicht nur in Fragenkomplexe um Autor*innenschaft, sondern bespielt auch die gegenwärtige und zweifellos überhitzte Bildkultur, in der Nachahmung und Aneignung zentrale Bestandteile der Kreation geworden sind. Statt Pessimismus leuchtet zwischen den Funken ein unheimliches Vergnügen auf, aus dem Kraft geschöpft werden kann, um durch die immer heißer werdenden Nächte zu wandeln.
Vergnügen und Fantasie sind auch zentral in der Abschlussarbeit von gergő d. farkas. babes ist ein ziemlich verführerisches Tanzsolo, und es wirkt fast so, als würde dey uns das Herz ausschütten… oder es ganz behutsam ausspucken. Nicht umsonst nennt gergö die eigene choreografische Praxis „Organ-ing“, eine „Strategie für eine Welterschaffung, die nicht an den Grenzen des Körpers haltmacht“. Und wirklich sieht es so aus, als würde unter der Haut von gergö ein Eigenleben entstehen. Etwas scheint zu wachsen, sich aufzubäumen, aber es ist gut gestimmt. gergös Bewegungen sind sinnlich, verspielt, teilweise romantisch. Die zugespitzen Hände streben hier in die Höhe, zirkulieren um sich selbst, werden Windräder, Blätter, Agenten und Seismografen, bevor sie zuerst die Wände und dann ganz vorsichtig den Boden berühren, den Körper wieder zu sich kommen lassen – unabdingbare Ehrlichkeit, kein Kitsch. Stattdessen entsteht auf der Bühne mit einem Sound, der zum Träumen auf der Tanzfläche einlädt, und dem Licht, das nicht immer gleich alles preisgeben will, eine Welt, in der unsere Begierden ohne Verurteilung geweckt werden.
Am letzten Festival-Wochenende findet ein Tempowechsel statt. Mit rasender Geschwindigkeit bringen Zoé Lakhnati und Per Anders Kraudy Solli eine kaskadenhaft sich ergießende Collage auf die Bühne: Frank Sinatra, Britney Spears, Figuren aus einem Gemälde von Raffael. Where the Fuck Am I? ist ein Post-Covid-Update von Aby Warburgs Bilderatlas, das aus der Vereinzelung heraustritt und stattdessen die Lust in der Kollaboration sucht. Und in der Tat sind die Chemie und die Bühnenpräsenz von Zoé und Per bemerkenswert. Es ist nicht ganz klar, wer eigentlich mit was den Takt vorgibt in diesem Dissoziationsfeuerwerk, in dem stotternde Körper und tanzende Sprache mit Beatboxingeinflüssen sich gegenseitig die Bedeutung rauben. Wobei das eigentlich nicht ganz stimmt. „Being lost is a valid location“, hat Jen Rosenblit einmal in einem Stück formuliert. Zoé und Per übersetzen unsere kollektive Zerstreuung und individuelle Erinnerungen in eine lustvolle Form der Überforderung.
Auch in Ivan Chengs Praxis ist Überforderung ein oft genutztes Stilmittel. Ivans falsche Identitäten auf der Bühne sind immer Trickster, die ihr Publikum mit einem charismatischen Lächeln aufs Glatteis führen. In Nowadays entpuppen sich Regenschirme als Lampen, werden Fake News zu wahren Begebenheiten verdreht. Der Titel des Stücks spielt auf den (fast) finalen Song des Musicals Chicago an. Diesen Camp übersetzt Ivan in einen virtuosen, pausenlosen Monolog, der sich auch auf Frühlings Erwachen bezieht, das Musical nicht nur auf dem Broadway, sondern auch passenderweise im Wiener Ronacher aufgeführt wurde. Die Kopie der Kopie – auch im Bühnenbild übersetzt durch eine schief hängende Projektionsfläche, auf der die Performance live noch mal übertragen wird und so auf ihre digitale Reproduzierbarkeit hingewiesen wird – ist befreit vom Dogma der großen Erzählung des letzten Jahrhunderts und deutet auf fragmentierte Gegenwart hin. In diesem Puzzle aus Eindrücken will Unterhaltung Missverständnisse produzieren, damit es so scheint, als müssten wir zwischen Clickbait oder Abstumpfung wählen. Dabei können wir uns auch dafür entscheiden, unseren Aufmerksamkeiten freien Lauf zu lassen, ohne uns dabei vorschreiben zu lassen, womit wir unsere Zeit verbringen sollten.
Eventuell ist es eine der Aufgaben von Tanz, Performance und auch Musicals, Theater in Orte der Zeitverschwendung zu transformieren, an denen Künstler*innen im Exzess die Plätze in den Köpfen ihres Publikums besetzen können. Etwas autonome Zerstreuung abseits der Aufmerksamkeitsökonomie kann nie verkehrt sein.
Lewon Heublein lebt als unabhängiger Kurator und Autor in Berlin und Wien und beschäftigt sich hauptsächlich mit zeitgenössischem Tanz, Performance und Sound. Neben der Mitherausgeberschaft der Online-Publikation PW-Magazine kuratiert er derzeit das Festival Rakete und die Musikreihe LO AND BEHOLD für das Tanzquartier Wien sowie die Reihe Intermezzo im Kunstverein Gartenhaus.