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Anna Leon über Negotiations von Alexander Gottfarb

Ein*e Tänzer*in, ein „captain“ und eine Fliege: Betrachtungen zu Negotiations

 
Negotiations Alexander Gottfarb

Ein*e Tänzer*in, ein „captain“ und eine Fliege: Betrachtungen zu Negotiations

Eine Hand hebt sich; der Ellbogen beugt sich; der Blick folgt. Der Arm fällt herab, schnellt wieder hoch; der Ellbogen beugt sich; der Blick folgt. Die Handlung ist fast, aber nicht ganz dieselbe wie zuvor. Der Arm fällt wieder herab; die Hand hebt sich; der Ellbogen beugt sich; der Blick folgt – eine spielerische Annäherung an die Grenze der exakten Wiederholung, ohne sie dabei zu streifen. Die Abfolgen setzen sich fort, und ehe der*die Betrachter*in sich dessen bewusst wird, ist die Sequenz ganz und gar nicht mehr dieselbe: Der*Die Tänzer*in hat eine Darstellung ausgeführt, variiert und so weit verändert, bis sie sich in etwas anderes verwandelt. Aus Bewegungslosigkeit werden Erkundungen des Gleichgewichts; kleine, gezielte Bewegungen – das Abstellen einer Kaffeetasse auf einem Tisch – werden zu Verschiebungen im Raum. Die Abfolgen setzen sich fort; Tage später unterscheidet sich das dargestellte Material auf radikale Weise, frühere Handlungen tauchen aber für einen Moment wieder auf und lassen das Vorhandensein des Selben bei der Gestaltung des Neuen erkennen.

Die Handlung erneuert sich selbst, ohne dabei automatisiert oder entfremdet zu werden. Im Gegenteil: Aufgrund der schieren Länge des Stücks – 365 Tage Tanz, 8 Stunden pro Tag, aufgeteilt auf 13Tänzer*innen – können Bewegungen nicht bloß ausgeführt werden, es bleibt auch genug Zeit, sie genau zu beobachten, ihre Ursprünge und Auswirkungen im Körper in ihre Einzelteile zu zerlegen – wie ein Spielzeug, das von einem neugierigen Kind auseinandergenommen wurde, um herauszufinden, wie es funktioniert. Tanzen wird zum Forschungsprojekt: tun, sehen, was passiert, wiederholen. Dementsprechend wird das Dem-Tanzen-Zuschauen zu einem Prozess des Verstehens von Bewegungsfunktionalitäten: Wie viele Achsen kann ein Körper gleichzeitig aufeinander abstimmen? Wie fungieren Gelenke als Scharniere? Welche kinetischen Muster entstehen in einem Körper, wenn er sich nicht bewegt? Wie können vom Knochengerüst ausgehende Bewegungen an Dynamik gewinnen und fließend werden? Wie lässt sich eine Bewegung unter Beibehaltung ihrer Struktur räumlich erweitern? Kann eine Bewegung so wiederholt werden, wie sie vor der sich im Lauf des Tages ansammelnden Erschöpfung ausgeführt wurde? Was kann eine „Fehl“-Stellung – wie das Balancieren am äußeren Rand der Fußsohle, das Verdrehen des Knöchels – über Gewichtsverteilung aussagen? Wie reagiert der Hals auf eine Bewegung des Beckens? Tun, sehen, was passiert, wiederholen: Das Tanzen, das aufgrund der Einzigartigkeit der unterschiedlichen Performer*innen variiert, ist, ebenso wie das Dem-Tanzen-Zuschauen, ein Prozess des Lernens und der Wissensproduktion.

In diese Untersuchungen dringt ein Satz ein wie ein Einschnitt, ein performatives punctum[1]: „I was assigned a captain today.“ Der Satz wird wiederholt, fragmentiert, erneut wiederholt, mit der Hand an der Schläfe zur Veranschaulichung der Worte. Die Gelenke, Knochen, Muskeln arbeiten weiter, doch wieder werden sie durchbrochen – durch das Erzählen einer Geschichte über eine emotional aufgeladene Begegnung mit „einem sehr großen Mann“; durch die Beharrlichkeit, mit der der*die Tänzer*in den Raum zeigt und wiederholt „Da!“ sagt. Zunächst ist für die Betrachter*innen nicht klar, wie sie auf solche Momente reagieren sollen: Hat sich die Geschichte wirklich zugetragen? Wer ist der „captain“? Ist er der sehr große Mann? Was war „da“? Und vor allem: Sprichst du zu mir? Der Einschnitt durchbricht die Erfahrung der Zuschauer*innen. Sie werden darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht so sehr einem*einer Tänzer*in zuschauen als vielmehr Zeit mit ihm*ihr verbringen; eine Gratwanderung an der Grenze der Performance zwischen tatsächlicher Interaktion und dem Betrachten einer inszenierten Präsenz.

Die Gelenke, Knochen, Muskeln arbeiten weiter, bis der nächste Einschnitt folgt: Der*Die Tänzer*in spricht den*die Betrachter*in an, schaut ihn*sie an oder unterhält sich mit ihm*ihr. Die Interaktion – sofern der*die Zuschauer*in sie zu einer macht – wird kurz sein; aber da hier alles Material ist und sich alles im Wandel befindet, wird sie in die folgenden Handlungen integriert, fragmentiert und wiederholt. Dekontextualisiert, aber nicht formalisiert wird sie als Einschnitt wiederkehren, dessen kommunikative Intensität die Linearität des Tanzes durchbricht. Weit davon entfernt, sich in den Dienst der Gleichhaftigkeit zu stellen, bietet die Wiederholung eine Gelegenheit, die Interaktion umzuwandeln, sie von ihrer unverfälschten Wirklichkeit loszulösen, wobei es zu keinem Zeitpunkt gelingt, sie vollständig zu eliminieren. Als Zeug*in der Verwandlung eines zwischenmenschlichen Austauschs in choreografisches Material nimmt der*die Betrachter*in die minutiösesten Präsenzen im Performanceraum als potenzielle Handlungsanstöße wahr. Neben der Hand des*der Tänzer*in landet eine Fliege auf dem Boden; blitzschnell richtet sich sein*ihr Blick auf sie. Der*Die Betrachter*in, sich des eigenen Präsent-Seins sehr bewusst, sieht in diesem kurzen Moment das Entstehen von Choreografie.

 

[1] Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980.

 

Anna Leon hat Psychologie & Philosophie und Kunstphilosophie im Vereinigten Königreich und in Frankreich studiert. Derzeit promoviert sie an der Universität Salzburg zu erweiterter Choreografie und Choreografiegeschichte. Parallel dazu unterrichtet sie in Workshops und regulären Kursen praxisorientierte Tanzgeschichte und -theorie.

 

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