TQW Magazin
Gurur Ertem über Kono atari no dokoka – somewhere around here von Michikazu Matsune & Martine Pisani

Eine poetische Verdichtung verflochtener Geschichten

 

Eine poetische Verdichtung verflochtener Geschichten

Die 1990er-Jahre waren eine aufregende Zeit für die aufstrebenden autonomen Initiativen und Kollektive in den Bereichen Tanz, Theater und Performancekunst in der Türkei. Das vom mittlerweile verstorbenen Hüseyin Katırcıoğlu ins Leben gerufene und geleitete Assos International Performing Arts Festival war unter diesen besonders bemerkenswert. Es wurden dafür ortsspezifische Arbeiten entwickelt, die drei Wochen lang in der archäologisch wie landschaftlich eindrucksvollen Region in und um Assos ‒ der antiken griechischen Stadt an der Ägäisküste im Bezirk Ayvacık der Provinz Çanakkale ‒ aufgeführt wurden.

Ich erinnere mich, bei der Abschlussfeier der vierten Ausgabe des Festivals im September 1996 in einem Strandhotel in Kadırga Koyu mit einem hochgewachsenen, sympathischen Japaner mit langem glänzendem schwarzem Haar getanzt zu haben.

Für die Ausgabe des iDANS International Festival for Contemporary Dance and Performance Festival, das ich von 2006 bis 2014 in Istanbul mitorganisierte und kuratierte, lud ich 2010 Michikazu Matsune, dessen Arbeit ich seit einiger Zeit aufmerksam verfolgt hatte, ein, eine Performance im öffentlichen Raum mit dem Titel Yes and No! zu veranstalten. Es war eine Demonstration in der belebtesten und berühmtesten Fußgänger*innenzone Istanbuls und wurde von rund 30 lokalen Performer*innen nach einem Workshop unter der Leitung von Michikazu realisiert. Inspiriert wurde sie von Protestkulturen wie Kundgebungen und Sit-ins, bei denen jede*r Teilnehmer*in Plakate mit Slogans wie „Ja zu Yıldız Tilbe“, einem umstrittenen Singer-Songwriter kurdischer Herkunft, oder Aussagen wie „Nein zum Angestarrtwerden“ in den Händen hielt. Die Gruppe hatte sich vor dem Galatasaray Lisesi versammelt ‒ dem Ausgangspunkt vieler einflussreicher Proteste in der Türkei wie z. B. der „Samstagsmütter“ ‒ und marschierte zum Taksim-Platz. Das war zu einer Zeit, in der unsere Telefone noch nicht so „smart“ und Social-Media-Plattformen noch nicht so allgegenwärtig waren. Daher ist das einzige Filmmaterial, das wir von der „Protestaktion“ und den Nachrichtenbeiträgen darüber haben, irgendwo in unseren Dropbox-Archiven vergraben. Ich frage mich, ob so eine Demonstration heute vorstellbar wäre, nach dem harten Vorgehen gegen öffentliche Versammlungen seit den Gezi-Protesten 2013, der bedeutendsten Protestwelle in der Geschichte der modernen Türkei, aber das ist ein anderes Thema.

In einem Gespräch mit Michikazu, wahrscheinlich im Zuge der Erarbeitung der Performance für iDANS, erfuhr ich, dass er es gewesen war, mit dem ich 1996 bei der Abschlussfeier des Assos International Performing Arts Festival getanzt hatte.

Am 2. März 2006 sah ich zum ersten Mal Martine Pisanis Arbeit, und zwar im Rahmen von FUSED, dem französisch-US-amerikanischen Austauschprogramm für Tanz. Das Danspace Project und das Joyce Theater hatten sich zusammengetan, um das 55-minütige Stück sans (ohne) aus dem Jahr 2000 im intimen Veranstaltungsort Joyce SoHo in New York zu präsentieren. Die Performer waren Laurent Pichaud, Theo Kooijman und Olivier Schram. Ich saß in der ersten Reihe, irgendwo in der Mitte, mit meiner Freundin, der inzwischen anerkannten Tanzwissenschaftlerin und Kuratorin Noémie Solomon. Wir bemühten uns, unsere Erheiterung über die absolute, kindliche Versunkenheit der Performer zu unterdrücken in dem offenbar ernsten Stück, das von Hinfallen, Wiederaufstehen, Zurückziehen, Zögern und Fauxpas geprägt war. Mikhail Baryshnikov war an diesem Abend im Publikum und lächelte uns kichernden Mädchen zu, während wir knapp davor waren, in einen Lachkrampf auszubrechen.

Als Michikazu mich fragte, ob ich Interesse hätte, einen Text über seine Zusammenarbeit mit Martine Pisani zu schreiben, war ihm nicht bewusst, dass sie eine der ersten Künstler*innen gewesen war, die ich zum iDANS Festival in Istanbul eingeladen hatte.[1] 2006 wollten wir uns mit dem Programm der Essentialisierung kultureller und nationaler Identitäten entgegenstellen, gegenseitige Inspiration und Hybridität auf kultureller Ebene in den Vordergrund rücken und künstliche Prozesse der Begrenzung hinterfragen.

In diesem Zusammenhang präsentierte Martine Hors Sujet, performt von Christophe Ives, Théo Kooijman und Eduard Mont de Palol. Dabei handelte es sich um einen 20-minütigen Auszug aus Hors Sujet ou le bel ici. In dem Stück kamen Elemente vor, die beim Erarbeiten früherer Shows entstanden waren, aber nicht in deren Rahmen passten: geplante, aber letztlich nicht realisierte Situationen, fertige und dann verworfene Dinge.

Das zweite Mal, als ich Martine zu iDANS einlud, war im Oktober 2009. Damals war das Motto des Festivals „Lachen und Weinen“. Theo Kooijman, Laurent Pichaud und Olivier Schram performten sans im Rahmen unserer Untersuchungen von Humor und Zwanglosigkeit in der Bewegung. Wie Theo Kooijman, Martine Pisanis Partner und Performer, in Kono atari no dokoka – somewhere around here erklärt, schufen sie sans „ohne Großbuchstaben, ohne Bühnenbild, ohne Musik, ohne Spezialeffekte, ohne Psychologie, ohne Kommentar … aber dafür mit Schuhen“.

Kono atari no dokoka lässt sich als eine Art Oase oder Zen-Garten erleben. Es ist minimalistisch ohne die Ideologie des Minimalismus. Es ist ein Raum zum Nachdenken, in dem „weniger mehr“ ist ‒ eine humane und unprätentiöse Haltung, die ich sowohl in Martines als auch in Michikazus Herangehensweise an ihre Kunst über all die Jahre schätze. Es ist ein Zufluchtsort, ein Trost vor den Gräueltaten, die sich in der Welt da draußen auftun, und ein Raum für eine Verschnaufpause abseits vom Lärm und vom Durcheinander dessen, zu dem die Kunstwelt mehrheitlich geworden ist, wo Nuancen, Feinsinnigkeit und Ästhetik verschwunden zu sein scheinen. Verschiedene Denker*innen, unter ihnen Byung Chul-Han, Timothy Morton und Dave Hickey, haben auf die derzeitige Ernüchterung in der Kunst hingewiesen. Nicht nur weil die Logik des kulturellen Kapitalismus die Ästhetik abstumpft, sondern auch weil Kunst zunehmend diskursiv, informativ und didaktisch und zu einem weiteren „Datenschutthaufen“ wird, auf dem die Sinnhaftigkeit verloren geht, indem sie auf eine einzige Bedeutung reduziert wird. Ein Großteil des institutionellen Framings rund um Kunst konzentriert sich heute auf Fragen der sozialen Gerechtigkeit und Identitätspolitik. Das ist an sich keine negative Entwicklung, unterbindet aber oft die spontane Auseinandersetzung der Betrachter*innen mit Kunst und steuert unsere Reaktionen darauf, indem sie uns diktiert, was wir anschauen und welche Bedeutung wir daraus ableiten sollen. Bei der ästhetischen Dimension in Kono atari no dokoka geht es nicht um rationale Argumentation oder Überzeugungskraft, sondern darum, sich mit den Gegebenheiten zu solidarisieren.

Die Wege von Martine Pisani und Michikazu Matsune hatten sich zwischen der Mitte der 2000er-Jahre und 2009 mehrmals gekreuzt. Ihre zufällige Begegnung in Paris im Jahr 2018, nachdem sie einander fast zehn Jahre lang nicht gesehen hatten, wurde zum Ausgangspunkt des Projekts. Sie begaben sich auf eine Reise poetischer Verdichtung der Archive von Martines frühen Werken, persönlichen Erinnerungen, Anekdoten und ihrem Einfallsreichtum und verflochten sie mit jenen von Michikazu.

Ihre Zusammenarbeit ist ein Paradebeispiel für intellektuelle, künstlerische und kulturelle Demut. Darüber hinaus offenbart sie eine tief empfundene, echte Neugier, bei der sich ein*e Künstler*in dem*der anderen nicht zur Informationsgewinnung als „Subjekt“ annähert, sondern als echte*r Partner*in im Sinnbildungsprozess deren Kunst, deren Geschichte und der Verflechtung mit der allgemeinen Geschichte dessen, was wir als zeitgenössischen Tanz bezeichnen. Das Ergebnis ist klar, geistreich und messerscharf wie die Haikus von Kobayashi Issa und Masaoka Shiki, die sie das gesamte Stück hindurch zitieren.

Selbstbeweihräuchernde autobiografische Erzählungen vom „Überleben“ sowie „Therapiesprech“ sind in Politik und Kunst in letzter Zeit allgegenwärtig geworden. Im Unterschied dazu präsentieren die Künstler*innen hier ihre Laufbahn mit Bezug auf die allgemeine Geschichte des zeitgenössischen Tanzes, wobei sie eine klare Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten aufrechterhalten und jede Form von selbstgefälliger Trauma-Erzählung vermeiden, selbst wenn sie über bedeutende Risse in ihrem Leben sprechen, wie das Erdbeben, das die gesamte Stadt Kobe ‒ Michikazus Heimatstadt ‒ zerstörte, und Martines Krankheit, die ihre Mobilität einschränkte. Diese Risse deuten auf die Instabilität des Bodens hin sowie darauf, dass die Dinge nicht immer wie geplant laufen, wie die prekären, unsicheren Bewegungen bereits ahnen ließen, mit denen sich Martine Pisani in ihren frühen Werken in den 1980er- und 1990er-Jahren auseinandergesetzt hatte.

Meistens laufen die Dinge im Leben nicht wie geplant. Doch alles ergibt Sinn in der Rückschau auf die Momente, auf zufällige Begegnungen, die uns dorthin geführt haben, wo wir heute stehen. Und der Weg bahnt sich nicht immer durchs Gehen; er bildet sich durch Stolpern, Hinfallen, Wieder-von-vorne-Anfangen oder indem das verworfen wird, was nicht mehr funktioniert, ein lange vergessener Faden wieder aufgenommen und von Neuem verfolgt wird. Und die eigene Lebensgeschichte ist stets mehr als nur die eigene: Sie wird immer wesentlich von anderen berührt, ist stets eng verbunden mit den Büchern, die wir lesen, den Menschen, denen wir begegnen, den Orten, an denen wir arbeiten, und den Ereignissen, die uns und unsere Wahrnehmung von Zeit und Ort tiefgreifend verändern. Kono atari no dokoka ist ein Beleg dafür.

 

Gurur Ertem ist Programmverantwortliche und Leiterin des Bereichs Forschung bei Bimeras Berlin und Istanbul. Sie ist Soziologin, somatische Bewegungs-/Tanzpädagogin und Kuratorin, deren Forschung soziale und politische Theorie mit Kunst zusammenführt. gururertem.info

Die Erstellung dieses Texts wurde durch eine Zusammenarbeit mit der Bimeras Berlin gGmBH ermöglicht.

 

[1] Als das International Network for Contemporary Performing Arts (IETM) im Jahr 2006 für seine Plenarsitzung in Istanbul ein Programm mit lokalen Künstler*innen in Auftrag gab, veranstalteten wir als neu gegründete Organisation Bimeras ein internationales Marathonprogramm unter dem Titel „IstanbulREConnects“.

 

 

 
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