TQW Magazin
Fariba Mosleh über Do You Know This Song? von Mallika Taneja

All the songs I am longing for – All die Lieder, nach denen ich mich sehne

 

All the songs I am longing for – All die Lieder, nach denen ich mich sehne

Auf ein leeres Blatt schreiben? Über Kunst? Keine Kritik, sondern frei und assoziativ? Über die Arbeit einer Künstlerin zu schreiben, die aus Indien angereist ist, um ihre Produktion Do You Know This Song? zu zeigen, erfüllt mich mit Respekt. Da sind wir schon mitten im Thema: Mit der Einladung, diesen Text zu verfassen, wurde mir eine Stimme gegeben, die neu für mich ist – eine Stimme, die ich nun teilen werde.

Wir, das Publikum, betreten eine Black Box. Wir nehmen in den drei Tribünenreihen links und rechts von einer laufstegähnlichen Bahn unsere Plätze ein. Mallika Taneja positioniert summend etwa 15 cm große Puppen auf diesem ca. zehn Meter langen Band. Sie begrüßt uns und kommentiert die freien Plätze: „There is a very, very big festival in town, which has taken the audience, but you are here. I love you.“ Aber wir sind viele. Es sind ja auch die über 130 Puppen hier, die den Raum mit Energie und Präsenz füllen – kleine, einfache Drahtkonstruktionen, die alle mit unterschiedlichen Stoffen überzogen sind.

Taneja nimmt uns auf eine Reise in ihre Vergangenheit und ihre Gegenwart mit: Als Kind wollte sie Sängerin werden. Wir sollen für diesen Abend ihre Familie sein, die Taneja bedingungslos liebt und unterstützt, die ihr zuhört und tut, was sie sagt.

Es folgen eineinhalb Stunden Summen, Singen, Instrumentalmusik, Body-Percussion (mit dem Publikum). Taneja führt uns über die Anrufung des Gottes Vali behutsam in scheinbar alte traditionelle indische Wiegenlieder ein. Zusammen mit den Texten hat das fast etwas Hypnotisches, jedenfalls Verträumtes, für manche auch Trauriges – ein Rite de Passage, kommt mir in den Sinn. Dieses Hin-und-Her-Bewegen zwischen zwei Polen: am einen Ende eine Frau, verkörpert durch eine Puppe, im häuslichen Bereich, in der Küche, mit Schöpflöffel in den Armen und einem Kochtopf im Rücken, aus dem zischend Wasserdampf aufsteigt, eine Shruti-Box und ein Mikrofon für den verstärkten Instrumentalgesang am anderen Ende, die glamouröse Bühne.

Jemand hat ihre*seine Stimme verloren. Obwohl für Taneja klar zu sein scheint, wer das ist, lässt sie uns darüber im Unklaren. Trotz des kollektiven Singens und Betrachtens öffnen sich individuelle Reflexionsräume. Was bedeutet der Verlust der Stimme? Wer hat die Stimme verloren? Ist es die an den Haushalt gebundene Mutter? Stellvertretend für alle Frauen, die der privaten, häuslichen Sphäre zugeordnet werden? Dazwischen die Künstlerin, das Kind, das, begleitet von seiner Familie, nicht nur sich selbst, sondern allen Ungehörten und zum Schweigen Gebrachten eine Stimme geben will?

Taneja performt mit dem Publikum ein experimentierfreudiges Solo auf Hindi und Englisch, eine poetische Arbeit, die die künstlerisch-reflexive und ästhetische Praxis vor die politische Ebene stellt oder dieser womöglich nur subtil überstülpt.

Der Verlust der Stimme: Das ist nicht nur ein physisches Phänomen. Deine Stimme verlierst du auch, wenn dir die Sprache nicht gegeben wird. Do You Know This Song? erinnert mich auch schmerzlich daran, dass ich viele Stimmen habe, mir viele Sprachen angeeignet habe. Aber eine fehlt mir: die, die ich höre, die ich fühle, die mir jedoch nicht über die Lippen kommt – Farsi, die Muttersprache meines Vaters. Keine Erinnerungen auf Persisch, keine tradierten Lieder und Geschichten, keine direkte Kommunikation mit meinen Vorfahr*innen.

Die Trauer, die Taneja hier auch zu verarbeiten scheint und die mich in diesem Zusammenhang am ehesten erfasst, spüre ich nur ansatzweise. Vielmehr ist es die Dankbarkeit, dass die Stimmen, wenn sie auch nicht gegeben wurden, ausgegraben werden können. Wir können sie uns aneignen, uns zu ihr in Beziehung setzen, dem Ungehörten Gehör verschaffen, hören und zuhören.

Taneja streift weiterhin durch das Puppenmeer zwischen den beiden Enden der Bühne. Sie spricht über die Liebe, fragt, warum es so schwer ist, dass unsere Träume wahr werden. Sie bringt uns dazu, wieder in gemeinsame Gesänge einzustimmen, während sie die kleinen Puppen liebevoll zu einem Haufen zusammensammelt, auf den sie die Mutterpuppe bettet und auf dem sie schließlich selbst zur Ruhe findet.

Kleinkinder brauchen phasenweise rund eineinhalb Stunden ritueller Abläufe bis zum Einschlafen – ebenso lange haben wir nun gebraucht, um Taneja mit einem Wiegenlied in den Schlaf zu singen.

Bis in meinen eigenen Schlaf begleiten mich der gemeinsame Gesang und die Melodie So – Ja – Re. Ja, jetzt kenne ich das Lied, das Taneja für dieses Stück geschrieben und komponiert hat, das vertraut klingt und mich in Kindheiten entführt – die meiner Großmütter, meiner Mutter, meiner Schwester und meiner Töchter. Ich mache unter den Frauen meiner Familie kurzerhand eine Umfrage und stelle fest, dass wir alle durch unsere Träume, Liebe(n), Verluste und Sehnsüchte verbunden sind.

 

 

Fariba Mosleh ist Kulturmanagerin und Kuratorin. Sie studierte Kulturanthropologie, Sinologie und Kulturmanagement an Universitäten in Wien, Guangzhou und Barcelona. Ihre Arbeit im Kunstbereich führte sie u. a. nach Wien, New York, Taipei und Brüssel. Mosleh ist spezialisiert auf Projektmanagement, Produktion und Kuration transkultureller, genreübergreifender, kollaborativer und diskriminierungskritischer künstlerischer Praktiken mit besonderem Schwerpunkt auf Performance und bildende Künste. Sie gründete und leitet studioOne – einen Verein für Kunst- und Kulturprojekte. Mosleh arbeitet als Kuratorin für transdisziplinäre Kunst sowie für ein Creative-Europe-Projekt in der Brunnenpassage Wien und ist freiberuflich als Kulturarbeiterin tätig. Zuletzt kuratierte sie die Open Water Dialogues für die Europäische Kulturhauptstadt Bad Ischl Salzkammergut. studiooneprojects.com

 

 

 

 

 

 
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