TQW Magazin
Kristin Gruber über A Year without Summer von Florentina Holzinger

Am Monströsen herumdoktern. Schnee auf Scheiße. Ein Spitalsmusical.

 

Am Monströsen herumdoktern. Schnee auf Scheiße. Ein Spitalsmusical.

Die Vorgeschichte: Im April des Jahres 1815 hing nach dem größten Vulkanausbruch, der je vom Menschen dokumentiert wurde, eine Aschewolke über der Welt. Die Starkwinde trugen nicht nur den Staub bis nach Europa, sondern verteilten auch 130 Megatonnen Schwefel in der Atmosphäre. Es folgten ungeheure Wetterphänomene, Naturkatastrophen, Missernten und Hungersnöte. Das Weltklima kühlte ab, unzählige Menschen erfroren, und 1816 wurde zum „Jahr ohne Sommer“ erklärt. All das führte zu einem Kanon gruseliger Kunstwerke, mit denen wir uns noch heute obsessiv beschäftigen. Am Genfer See trafen sich die jungen Literat*innen und schrieben ungehemmt Obskures. Unter ihnen Mary Shelley, die Tochter einer Feministin und eines Anarchisten, vor allem aber: die Autorin und Schöpferin von Frankenstein.

„What if this was a year without summer? What would we do?“ Eine Antwort wird lauten: „We would come together to feel warmer.“ Ich glaube nicht, dass jemals ein Stück von Florentina Holzinger so zärtlich begonnen hat. Ganz langsam erscheint eine Performerin* nach der anderen auf der Bühne. Ein Gutteil der 25 weiblich gelesenen Körper dieses diversen Casts befindet sich im fortgeschrittenen Lebensalter, manche im Rollstuhl oder mit Rollator. Während Skeeter Davis in ihrem melancholischen 60er-Jahre Hit singt: „Don’t they know it’s the end of the world“, ziehen sie sich behutsam gegenseitig aus, stützen sich, haken ihre Arme beieinander ein, wiegen sich in Umarmungen, streicheln sich die Köpfe, schenken sich Fürsorge und Aufmerksamkeit. Es wäre eine Art sapphisches Altersheim-Paradies, aber immer lauert hinter der nächsten Ecke der Bruch, und diesmal kommt er in Form von schwarz glänzenden Strap-ons.

Auf der Bühne bläst sich eine überdimensionale Luftskulptur auf, frei nach dem Gemälde von Gustave Courbet aus dem Jahr 1866: Der Ursprung der Welt, allerdings in Riesinnen-Dimension, gespreizte Beine, viel Schamhaar, eine Vulva full frontal. Aus ihr kriechen die Performerinnen* im neuen Gewand: mit Arztkittel und Stethoskop, nennen sich Dr. Frankenstein, Freud, Mengele oder Cuvier. Wir befinden uns in Florentinas Splatter-Musical mit dystopischen Visionen, „sweet caretaking“ und der zentralen Frage, wie viel Horror die patriarchale Medizin und ihre verehrten Wissenschaftler bis heute verursacht haben. This facility is open and everybody is going to sing! Als Jazzdance- und Revue-Referenzen fliegen Beine in die Höhe, werden Formationen getanzt, Pointen platziert und Lacher abgeholt, während uns die Medizingeschichte und ihr grausames Verhältnis zum weiblichen Körper und zur weiblichen Psyche serviert werden, wenn die vaginale Höhle zu einem kastrierenden Gebiss mutiert oder die Geschlechtsorgane einer Schwarzen versklavten Frau abgeschnitten, in Einmachgläser eingelegt und bis 1974 im Museum ausgestellt werden. Der Bezug zur Gegenwart lässt nicht lange auf sich warten. Die Performerinnen* beginnen von ihren eigenen Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem zu erzählen, und es wird deutlich, dass wir in dieser Gesellschaft gerade erst begonnen haben, über Rassismus und Sexismus in der Medizin zu sprechen, darüber, was es bedeutet, wenn nach wie vor die meisten Medikamente ausschließlich an Männern als Normmenschen getestet werden, oder die Dermatologie nicht einmal richtige Diagnosen garantieren kann, weil ihr Wissen auf der Erforschung weißer Haut beruht und sich sowohl Symptome als auch Krankheitsverläufe bei dunklerer Hautfarbe unterscheiden können.

Wie von Florentina Holzinger zu erwarten, ist das eine überschüssig große Show, eine bis an die Spitze der Absurdität führende Unterhaltung mit Krankenbetten, Infusionsständern, einem schleimigen Labor für Experimente, Performerinnen* in Pflegepersonal- und Patientinnen*-Outfits, Arztschuhen und Haarnetzen. Die Doktoren unterziehen den Frauenkörper und seine Reproduktionsorgane ihrer fanatischen Kontrolle, versprechen in frankensteinesken Experimenten Lebensverjüngung, die Überlistung der Natur und letztlich des Todes. Lassen Sie ihrer Fantasie freien Lauf, wenn Sie sich vorstellen, wie in einem solchen Szenario das ultimative Facelifting aussehen kann.

Wer hat die Folge von Black Mirror gesehen, in der der schwarz-eiserne Roboterhund 45 Minuten lang versucht, die Protagonistin zu töten, die sich allein in einem Haus im Nirgendwo befindet? Da stehen sie plötzlich, die Hunde, mit grün leuchtenden Augen, unsere Assistenten der Zukunft, bereit und creepy as fuck, damit wir die Welle der Angstlust reiten können. Keine Ahnung, wie das choreografiert wurde. Sie alle führen scheinbar individuelle Bewegungen aus, wirken wie eigenständige Kreaturen, wenn auch mit der Intelligenz des Rudels. Sie alle wollen dasselbe, etwas Gefährliches.

A Year without Summer operiert an der Koexistenz. Hier das Monströse und Brutale in Medizin und Wissenschaft, deren diskriminierende Logiken, der Größenwahn und das Leid, das daraus folgt. Dort die gegenseitige Fürsorge, der Zusammenschluss, die Verbindung, die Zärtlichkeit, die Liebe, das „I fuck“, das Lachen, das Sich-alles-Herausnehmen. Für ein Musical bedeutet das: Klavierharmonien, Panik-Noise, Geigensolo, verzerrte E-Gitarre, fröhliche Stimmen, Drones. Push! Push! Push! Lift! Lift! Lift! Schalalalala uhh ahh schalalalala, killi killi killi. Da kommt noch einiges, bis der Winter einbricht und es schneit. Man hört Florentinas Schlittschuhe am Eis laufen und nach einem Sprung wieder aufsetzen. Nackter Axel, Lutz, Rittberger im nie enden wollenden Kalt.

 

Kristin Gruber arbeitet an den Schnittstellen von Journalismus, Film, Musik, Literatur und Performance. Mit der JazzWerkstatt Wien hat sie aggressive Heilmessen abgehalten, seit 2020 hostet sie die experimentelle Talkshow KEINE PANIK. Oh fuck lautet der Arbeitstitel für ihren literarischen Erzählband zum Thema Sexualität. Derzeit arbeitet sie gemeinsam mit Elisabeth Scharang am ersten globalen Kinodokumentarfilm und Podcast über Femizide #HowToStopFemicide.

 

 

 
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