TQW Magazin
Elke Krasny über The Ritual Season von Alexander Gottfarb

Am Ritual arbeiten

 

Am Ritual arbeiten

Wien 15, Vogelweidplatz 13. Der Betrieb hat geöffnet. Der Raum des Betriebs, wiewohl leicht zu finden, fällt nicht besonders auf. Weit entfernt von aufmerksamkeitsheischenden und die Kunst vom Alltag isolierenden Architekturen, wie sie von Museumsquartieren oder Museumsinseln in den urbanen Zentren des globalisierten Kunstbetriebs bekannt sind. Dieser Betrieb gibt sich als selbstverständliche kulturelle Einrichtung in der Nachbarschaft. Er ist einfach vorhanden. Hier, in der Urbanität des Gewöhnlichen, unweit der vielspurigen Verkehrsinfrastruktur des Gürtels, eines stark frequentierten Einkaufszentrums, eines Nachbarschaftsspielplatzes im auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Park und neben einem taiwanesischen Restaurant, haben die Tänzerin Anna Maria Nowak und der Tänzer und Choreograf Alexander Gottfarb im Oktober 2022 den Betrieb aufgenommen. In dieser Saison widmet sich der Betrieb dem Ritual.

Sich im Jahr 2024 dem Ritual zu widmen ist ebenso mutig wie schwierig. Rituale sind Teil des historischen, insbesondere des religionsgebundenen, kulturellen Erbes und zugleich mit Artikulationen von Tradition oder Brauchtum verwandt, die im lokalspezifischen österreichischen Kontext vom Faschismus angeeignet wurden und dadurch mit der Geschichte des Genozids aufs Engste verbunden sind. Heute machen migrationsgesellschaftliche diverse religiöse Artikulationsformen sowie von der extremen Rechten praktizierte öffentliche Manifestationen das Ritual zu einer Kampfzone von Religion und Ideologie. Neue Rituale für die Millionen von Toten, die aufgrund der Pandemie, der Kriege und der unnatürlichen Desaster ihr Leben verloren haben, für die Klimakatastrophenopfer, für verschwundene und verschwindende Spezies sind noch nicht gefunden. Darüber hinaus hat der neoliberale Kapitalismus Rituale als sinnstiftende und körperregenerierende, niederschwellig vermarktbare und hochpreisige Self-Care-Angebote entdeckt. Diese haben zu einem neuen spirituellen Wellness-Kapitalismus geführt, der sich mannigfach durch neokoloniale kulturelle Appropriation auszeichnet. Angesichts von Ritual als Kampfzone, Ritualdefizit und Kapitalisierung von Ritual ist es äußerst komplex, die Sinnpraxis von Ritual neu zu bestimmen. Mitten in dieser Komplexität arbeitet der Betrieb am Ritual und stellt zugleich durch seine Arbeitsweise auch eingeübte Rituale des Kulturbetriebs selbst infrage, indem er sie von innen heraus transformiert.

In einem vom „Projektmodus getriebenen Kulturbetrieb“ (sic!) verbindet sich die Logik von Laufzeiten und Saisonen mit der Logik des sich gegenseitig immer durch das Versprechen des Noch-nicht-Dagewesenen und den Geist der Neuheit Übertrumpfenmüssens. Während viele Projekte im Kampf um Ressourcen und Infrastrukturen nur dadurch konkurrenzfähig bleiben, setzt der Betrieb von Nowak und Gottfarb auf Dauer. Dauer ist weder weniger zeitintensiv noch weniger anstrengend. Im Unterschied zur von staatlichen Förderpolitiken und Auftragslogiken bestimmten Kurzzeitprojektitis erlaubt Dauer jedoch sowohl Wiederholung als auch Transformation. Diese zeichnen Gottfarbs choreografische Arbeitspraxis nicht nur konzeptuell, sondern auch konkret aus. Wiederholung braucht Zeit. Transformation ebenso. Wiederholung, die zu Transformation führt, und Transformation, die nicht als fixiertes Endprodukt verstanden wird, sondern als zu transformierend, sich durch ihre Wiederholung weiter verändernd, brauchen eine andere Zeitlichkeit als die der akzelerierten Neuheitsrasanz. Dauer, Intensität, Beharrungsvermögen. Das macht keinesfalls weniger Arbeit, aber es definiert den Rhythmus von Arbeit anders. Es geht von einem Arbeitstagsverständnis von Choreografierenden, Tanzenden, im weitesten Sinne Kulturarbeitenden aus, das an Zeitvorstellungen erinnert, die es vor der umfassenden, Leben zu Arbeitszeit transformierenden Durchneoliberalisierung wohlfahrtsstaatlicher Zeitregime gegeben hat. Der Betrieb am Vogelweidplatz arbeitet mit diesen Elementen des Kulturbetriebs und transformiert sie. Er ist auf viele Jahre angelegt, auf konsequentes Weiterarbeiten. Auf Saisonen, die in sich Wiederholung und Transformation betreiben und nicht jede Saison aufs Neue das Neue versprechen.

Wenn eine besuchende Person nun den Betrieb betritt, dann wird sie in Empfang genommen. Ihr wird ein Tablett ausgehändigt. Darauf befinden sich drei essbare Dinge, die in einer bestimmten Reihenfolge verzehrt werden sollen: eine Paste auf einem Löffel, ein Cracker, eine Flüssigkeit in einer kleinen Schale. Die Besuchenden bekommen ein Stück Papier, auf dem sie einen Satz oder auch nur ein Wort festhalten und das sie auf das Tablett für die „Dedications“ legen sollen. Später werden die Papiere verbrannt. Um das Ritual zu beenden, sind Kressesamen vorbereitet, die alle Besuchenden in einen kleinen Terrakottateller nahe der Tür streuen dürfen. Die Zeit, die eine besuchende Person sich für das Ritual nimmt, kann diese selbst bestimmen. Das können zehn Minuten oder sogar mehrere Stunden sein. Die vom Betrieb ausgesprochene Einladung, hier an einem Ritual teilzunehmen, transformiert durchaus die Art und Weise, wie auf die Bewegungen, die die Tanzenden vollziehen, geschaut wird. Das Im-Ritual-Sein ist anders als das Bei-einer-Performance-Sein. Während der Modus von Performance, Aufführung oder Vorstellung nach spezifischen, kulturell eingelernten Betrachtungskonventionen und sehr bestimmten Aufmerksamkeitsintensitäten verlangt, verlangt das Ritual nach ganz anderen. Diese herzustellen liegt bei den Besuchenden. Was die Tanzenden und ihre Bewegungen eindrücklich verkörpern und vor Augen führen, ist, dass Ritual immer Ritual-Arbeiter*innen braucht. Rituale sind nicht einfach, es muss für sie gesorgt werden. Rituale machen Arbeit, ganz konkret. Damit die Zeitlichkeit des Rituals erfahrbar wird, muss am Ritual gearbeitet werden. Diese Arbeit am Ritual selbst, die wie andere Formen kollektiver Sorgearbeit historisch unsichtbar gemacht wurde, sichtbar, spürbar, greifbar, erkennbar zu machen und gleichzeitig nicht zu verordnen, nicht vorzuschreiben, welchem Sinn dieses Ritual im Betrieb dient, das ist die komplexe Neubestimmung des Rituals, die in der Ritual Season im Betrieb vollzogen wird.

 

Elke Krasny, Professorin an der Akademie der bildenden Künste Wien, forscht zu kritischen Raumpraxen, Erinnerungsarbeit, Care und transnationalen Feminismen. Ko-Herausgeberin mit Barbara Büscher und Lucie Ortmann von Porös-Werden – Geteilte Räume, urbane Dramaturgien, performatives Kuratieren, Wien 2024.

 
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