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Arash T. Riahi im Gespräch mit Ulduz Ahmadzadeh und Johanna Figl über Force Majeure

 

Arash T. Riahi im Gespräch mit Ulduz Ahmadzadeh und Johanna Figl über Force Majeure

Ulduz Ahmadzadeh und Johanna Figl arbeiten gerade am Stück Force Majeure, in dem es u. a. um Mutterschaft, Aktivismus und Gefängnis geht. Die Uraufführung ist nun für März 2021 geplant.

 

Arash T. Riahi: Wie kam es zu der Stückidee und zu eurer Zusammenarbeit?

Johanna Figl: Wir haben uns bei Impulstanz kennengelernt und uns sofort auf dem gleichen Level verstanden. Ulduz hat mir gegenüber den Wunsch geäußert, gerne mal mit einer Dramaturgin zusammenarbeiten zu wollen. Wir wollten etwas machen, das sich nicht nur mit der „schönen Kunst“ oder mit uns selbst beschäftigt, sondern eine größere Dimension hat, politisch ist und etwas verändert.

Unsere erste Zusammenarbeit war dann das Projekt Under Cover zum Thema Hijab, das ein anderes Bild von muslimischen Frauen in Österreich aufzeigen möchte.

Ich stolperte schon damals immer wieder über Briefe von Aktivistinnen, die diese aus dem Gefängnis an ihre Kinder schreiben und die Amnesty International laufend veröffentlicht. Der Zwiespalt, das Hin-und-Hergerissensein bezüglich der Frage „Wie handelst du richtig?“ hat mich gepackt. Ich fand so spannend, dass man für die Kinder ein besseres Leben schafft, indem man sich für das große Ganze einsetzt. Und ich fand sehr schön, wie sie versuchen, den Kindern genau das zu erklären. Ich dachte mir: „Ich glaube, ich würde es an der Stelle der Kinder verstehen.“ Und so haben Ulduz und ich immer wieder gemeinsam über die Themen des neuen Stücks nachgedacht. Natürlich bringt Ulduz als Mutter ihre eigene Erfahrung mit hinein, und wir sprechen auch sehr viel mit betroffenen Frauen über all diese Dinge. Manche haben sich z. B. bewusst dagegen entschieden, Kinder zu bekommen, weil sie meinen, dass sie so anders agieren können. Da spielen ganz viele Facetten mit, die wir thematisieren wollen.

Mit dem Projekt Under Cover haben wir eine Trilogie begonnen mit dem Ziel, muslimisch sozialisierte Frauen ins Zentrum zu stellen – als Bewusstseinsarbeit. Mich hat das Kämpferische an den iranischen Frauen, die ich kenne, immer sehr beeindruckt. Das war auch mit ein Grund, das zu thematisieren und zu schauen, wie sehr die Gesellschaft im Argen liegt, dass diese Frauen sich so einsetzen und bereit sind, so viel zu riskieren. Wir Europäerinnen müssen – zumindest derzeit    solche Entscheidungen ja gar nicht treffen.

A. T. R.: Ulduz, wie ist deine Perspektive auf das Projekt? Wie bist du auf diese Idee gekommen? Hast du eine persönliche Verbindung dazu, unabhängig von deiner iranischen Nationalität?

Ulduz Ahmadzadeh: Also es wird schwierig zu sagen „unabhängig von meiner Nationalität“, weil das alles natürlich auch sehr biografisch mit mir verbunden ist. Aber eine zentrale Frage, unabhängig von Nationalität, ist die, die ich mir damals, als ich mit meinem zweiten Kind schwanger war und wir gerade das Konzept schrieben, oft stellte: „Wie kann eine Mutter eine andere Priorität haben als ihre Kinder?“

Ich ließ damals mein erstes Kind berufsbedingt erstmals für zwei Tage allein. Es war ein unglaubliches Gefühl, dass du dieses schreiende Kind hast, das nach dir ruft, weil du für es alles bist, und dann bist du plötzlich weg. Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn man in so einer Situation fremdbestimmt ist und gar nicht die Wahl hat, zurückzugehen und dieses Kind wieder zu halten. Und ich fragte mich, wie man sich als Mutter fühlen muss, wenn man politisch aktiv ist und weiß, dass dieses Szenario jederzeit eintreten kann. Mein Interesse war also, diese Frauen kennenzulernen und zu verstehen, was bei ihnen abläuft. Wie kann so eine Entscheidung von einer Mutter getroffen werden?

A. T. R.: Die Entscheidung ist ja die politische Entscheidung, aktivistisch tätig zu werden und diese Gefahr in Kauf zu nehmen. Wahrscheinlich entscheidet sich keine Frau dafür, ihr Kind freiwillig zurückzulassen.

U. A.: Ja, genau diese politische Entscheidung meine ich. Wobei ich natürlich die Dringlichkeit und die Notwendigkeit, mein Privatleben für Freiheit und für Menschenrechte zu riskieren, sehr gut nachvollziehen kann.

J. F.: Ich glaube, man muss zwischen sehr lautem Aktivismus und Leuten, die einfach für sich das Richtige tun wollen, unterscheiden. Wir hatten z. B. Gespräche mit einer Interviewpartnerin, die schon deswegen im Kreuzfeuer steht, weil sie einer Minderheit angehört, und sich zudem um sexuell missbrauchte Kinder kümmert. Sie ist nicht laut, sie läuft nicht fahnenschwingend durch die Straßen, aber durch ihr Tun allein ist sie schon gefährdet. Dem gegenüber stehen natürlich auch Menschen, die sich bewusst für den lauten Aktivismus entscheiden.

U. A.: Ich glaube schon, dass man sich entscheiden kann. In dem Moment, in dem man ein Kind bekommt, könnte man ja aufhören. Aber das ist genau das, was die Gegner*innen wollen. Dass man eben aufhört, dann wäre alles wieder „okay“. Aber wenn man mit dem Aktivismus weitermacht, dann spielt man auf jeden Fall mit dieser Gefahr, und die Menschen, die diesen Weg doch weitergehen, wissen auch um diese Gefahr.

Im Fall der recht sichtbaren Aktivistinnen ist das genauso. Sie wissen ganz genau, was ihnen passieren könnte, und fordern es auch irgendwie heraus. Sie konfrontieren bewusst das Regime mit ihrem Verhalten und provozieren es. Es war für mich sehr interessant, das einfach einmal zu verstehen. Wie können sie das machen?

Trotzdem ist es nicht immer eine bewusste Entscheidung, für eine Sache ins Gefängnis zu gehen. Wir möchten dieses Thema aus der Sicht sowohl der Eltern als auch der Kinder betrachten.

A. T. R.: Kann man vielleicht sagen, dass dem Stück die grundlegende und universelle Frage voransteht, ob man Kinder kriegen soll oder nicht und in welche Welt man diese Kinder überhaupt setzen will? Die einen sagen: „Ich will kein Kind haben, weil die Welt so schlecht ist. Warum soll ich das dem Kind antun?“ Die anderen sagen: „Ich will ein Kind haben, um das Kind so zu erziehen, dass es die Welt verbessern kann.“ Und darüber hinaus geht es natürlich auch um die Frage, wo man lebt. Ob du in einer Diktatur oder in einer Demokratie lebst, definiert, welche Mittel dir zur Verfügung stehen, um die Welt um dich herum zu verändern. Wenn du das überhaupt nicht willst oder aufgibst, ziehst du dich ins Private zurück, wie das im Iran und auch in anderen Ländern oft passiert. Wenn man sich entscheidet, politisch aktiv zu werden, bedeutet das, dass man Gefahr läuft, ins Gefängnis zu kommen, getötet zu werden oder flüchten zu müssen. Die andere Option ist, komplett apolitisch oder vermeintlich apolitisch zu werden, um überleben zu können.

J. F.: Ja, man kommt da vom Regen in die Traufe. Wenn du an Menschenrechte und an Freiheit oder an das Leben glaubst, dann wirst du mit keiner dieser Entscheidungen wirklich glücklich sein, und das wird dir immer wehtun. Manchmal hast du keine Wahl, wenn du gewisse Werte hast und dich dafür einsetzen musst. Darüber sprechen wir auch oft, dass man es manchmal muss. Du musst sagen, das ist ein Unrecht und ich kann da nicht zuschauen. Ich lasse mir nicht alles gefallen. Ich gebe nicht nach und ich lasse die nicht gewinnen. Ich glaube, die Frage, Kinder zu kriegen, ist schon auch eine Frage, ans Leben zu glauben. Und zu hoffen, dass du gute Kinder kriegst, die vielleicht etwas verändern.

A. T. R.: Oft ist es ja auch so, dass ein Kind auch als die Saat für etwas, sowohl im Positiven als auch im Negativen, gesehen wird. Bei mir war es ja auch so, dass mein Vater unter dem Schah fünf Jahre im Gefängnis war. Er kam ins Gefängnis, als ich eineinhalb Jahre alt war. Als danach meine Mutter mit einem meiner Geschwister schwanger war, haben meine Eltern mitbekommen, dass die Islamisten in der Region gerade am Diskutieren waren, ob man meine Mutter nach der Geburt hinrichten soll oder lieber während der Schwangerschaft, damit die antiislamische Saat in ihrem Bauch gleich mitvernichtet wird. Wer weiß, was die genetische Auswirkung dieser Stresssituation meiner Mutter auf die Kinder war. Ist diese genetische Weitergabe des Traumas für euch ein Thema?

J. F.: Ich finde das schon sehr spannend.

A. T. R.: Das ist ja auch ein großes Thema bei Holocaust-Überlebenden.

J. F.: Es ist ja bewiesen, dass so ein Trauma über drei Generationen weitervererbt werden kann.

U. A.: Ich sehe es so, dass wir allein dadurch, dass wir auf der Bühne präsent sind, als Kinder dieser Generation, das Thema mitrepräsentieren. Das ist in unserer Generation sowieso ein Thema: diese Depressionen, diese Dramen aus der Kriegszeit, die wir in unserer Kindheit mitbekommen haben. Da sind keine wissenschaftlichen Beweise mehr nötig, weil wir das bei uns selbst täglich beobachten können und damit zu schaffen haben, irgendwie drüberzustehen.

Ich habe auch selbst eine starke Phobie. Einer meiner größten Albträume, die sich ständig wiederholen, ist, im Gefängnis eingesperrt zu sein. Diese Angst ist immer da. Ich wüsste nicht, wie ich weiter atmen könnte, wenn ich das Gefühl hätte, ich kann hier nicht rausgehen und man hat mir alles weggenommen, vor allem die Freiheit. Ich bin da sehr sensibel und kann es überhaupt nicht aushalten, wenn mich jemand in eine Situation bringt, in der ich mich eingeengt fühle. Was mich also auch sehr interessiert, sind die Zustände des Körpers. Wie ist es, wenn man eingesperrt ist, wenn man total abgekapselt ist und überhaupt keine Macht, überhaupt keine Kontrolle hat? Es wird einem alles weggenommen. Wie überlebt man? Was passiert dann im Körper? Dieser Zustand des Körpers als Medium. Das ist eben auch unser Medium: Körper und Tanz. Wie ich es schaffe, diese Gefühle mit Tanz zu präsentieren, ist genau das, was wir gerade erarbeiten. Ich habe auch schon ein paar Ideen, wie ich vielleicht unsere Körper wirklich in diesen physischen Zustand des Eingesperrtseins bringe, um dann damit zu arbeiten. Ein anderes Thema ist z. B. das Atmen. Es gibt auch Inspirationen aus einem archaischen Männertanz aus Turkmenistan, der sich viel mit Atemtechnik beschäftigt. Dieser Tanz ist sogar älter als der Islam und stellte eine spirituelle Praxis dar: ein Ritual vor dem Jagen, um die Seele des Tieres vor der Jagd zu fangen und zu opfern.

J. F.: Diese archaischen Männertänze werden bei uns in das Stück eingeflochten, aber von Frauen getanzt. Wir eignen sie uns als Raum an, der traditionell den Männern zugeordnet war.

A. T. R.: Wenn man als Mutter im Gefängnis ist, ist womöglich das Letzte, woran man denkt, der Tanz! Genau das finde ich toll. Sich so ein Thema zu nehmen, das vermeintlich gar nicht mit Tanz assoziiert wird, und sich daran mit dem Medium Tanz anzunähern. Schließlich ist der Tanz ja auch einer der größten Ausdrücke von Freiheit. Wie geht ihr das an?

U. A.: Tanz ist für mich ein Zustand im Körper. Beim Thema Gefängnis denkt man z. B. oft, dass es etwas Statisches ist. Für mich hat es das aber überhaupt nicht, weil im Inneren des gefangenen Körpers so viel Bewegung vorhanden ist. Deshalb stelle ich mir das Stück auch sehr bewegt vor.

J. F.: Man kann innere Prozesse sehr gut darstellen. Darum geht es um mehr als die Ist-Situation. Die emotionalen Gedanken des Hin-und-Hergerissenseins. Dafür eignet sich der Tanz, das Somatische, sehr gut; auch zur Untersuchung der Frage: „Wo setzt sich diese Angst oder diese Resilienz im Körper fest?“ …

U. A.: … oder auch der Widerstand. Widerstand leisten hat ja auch sehr viel mit dem Körper und den Muskeln zu tun. Es ist allerdings eine ganz große Herausforderung für mich, dieses Thema in eine Sprache von Tanz zu verwandeln, also nicht nur performativ im Sinne dessen, was passiert ist mit meinem Körper im Raum oder in der Zeit.

Natürlich fließen auch andere persönliche Erlebnisse mit ein. Als ich letztes Jahr im Iran war, geriet ich mit meiner Mutter in eine große Demonstration, und in dem Moment, in dem ich die bewaffnete Polizei sah, dachte ich voller Angst an meine Kinder. Daran, was mit ihnen passieren würde, wenn ich jetzt erschossen werden würde. Kurz darauf wurde im Iran ein ukrainisches Flugzeug abgeschossen, und auch da überkam mich dieses Gefühl des Kontrollverlusts, weil ich daran dachte, was mit meinen Kindern wäre, wenn ich in diesem Flugzeug gewesen wäre.

Dieser Zustand, diese Konfrontation mit dem Tod, bewirkt einen unglaublichen Adrenalinausstoß. Das ist neben dem Ist-Zustand im Gefängnis auch sehr interessant für mich, und das möchte ich auch in das Stück einbinden.

A. T. R.: Ihr habt vorhin den Widerstand angesprochen, und eigentlich kann man sagen, dass allein die Entscheidung, ein Tanzstück mit Frauen zu machen, schon per se den Widerstand symbolisiert. Speziell wenn man bedenkt, dass öffentlicher Tanz in Ländern wie dem Iran verboten ist …

U. A.: Aber das war ja auch der Grund, warum ich tanze. Ich kam 2008 hierher und hatte 1999 im Iran angefangen zu tanzen. Das war ein Akt des „Schau mich an, ich mach das. Du kannst mich jetzt nicht stoppen“. Ich musste auch sehr lange dafür kämpfen, mir das nicht verbieten zu lassen, obwohl es verboten war. Ich fand meine Wege, das zu tun, und generell war der Tanz für mich immer ein Hebel, ein Instrument des Widerstands.

A. T. R.: Kannst du dich daran erinnern, wann du das erste Mal getanzt hast?

U. A.: Ja, ich habe das schon als kleines Kind gemacht. Damals hatte ich natürlich überhaupt keine Idee, was das ist oder dass ich überhaupt jemals als professionelle Tänzerin arbeiten könnte. Ich erinnere mich gut an diese VHS-Videokassetten vom Schwarzmarkt, auf die am Ende des Bandes verbotene Sachen wie Musicals, Musikvideos oder Eiskunstlauf-Performances kopiert waren. Das sah ich mir dann oft heimlich an und war fasziniert, und ich tanzte dann immer für mich, nahm das aber weniger als Tanz wahr als vielmehr als ein Erlebnis, das mich das Leben spüren ließ.

A. T. R.: Ist das ein Projekt, bei dem man auf der Suche nach Antworten ist, oder eines, bei dem man Fragen nachgeht, auf die es gar keine eindeutigen Antworten gibt?

U. A.: Es gibt definitiv keine Antworten. Das war auch bei unserem vorherigen Projekt Under Cover über den Hijab so. Es ist ein komplexes Thema, auch für mich. Da haben wir keine Antworten, und ich will auch keine Antwort geben, weil es, glaube ich, kaum eine Antwort geben kann.

J. F.: Ich finde, dass die Kunst ja gar nicht Antworten zu geben braucht. Ich glaube, unsere Aufgabe ist nicht, Antworten zu geben, sondern eher Fragen zu stellen. Mir ist es während der Recherche immer dringlicher geworden, diesen Frauen Tribut zu zollen und ihre Geschichten sichtbar zu machen.

U. A.: Was mich auch sehr interessiert, ist, dass auf jeden Fall die Zuschauer*innen in eine Interaktion miteinbezogen werden, damit sie gezwungen sind, ein eigenes Urteil zu fällen. Ich möchte es ihnen diesmal auch etwas unangenehm machen. Unabhängig von der Nationalität geht es ja um das Muttersein und darum, was man Müttern zuschreibt, was sie zu tun haben, was ihre Verantwortungen sind, was ihre Prioritäten sein sollen, wie sie ihr Leben einrichten sollen, was für eine Verantwortung sie gegenüber ihren Kindern haben sollen …

Ich arbeite auch mit einer österreichischen Tänzerin, die selbst Mutter ist. Das war eine bewusste Entscheidung, damit man diese Geschichte nicht nur mit uns Iraner*innen in Verbindung bringt und sagt: „Das ist eure Geschichte, die geht mich nichts an.“ Ich weiß, dass es z. B. in der Nazizeit auch viele Frauen gab, die, weil sie Kinder hatten, sehr vielen ähnlichen Gefahren ausgeliefert waren. Auch jetzt ist es schwierig, wie mir die Tänzerin bestätigt. Sie wird als Mutter z. B. von der Gesellschaft kritisiert, weil sie als Tänzerin in einer prekären Arbeitssituation lebt. Man empfiehlt ihr, sich gefälligst einen anständigen Job zu suchen. Ich glaube, dass man sogar in Österreich als Frau mit der Frage konfrontiert ist, wieso man politische Arbeit macht, obwohl man jetzt Kinder hat.

A. T. R.: Es ist einfach die traditionelle Sicht, dass man sich als Mutter opfern muss und zurückstecken sollte.

U. A.: Es geht dabei auch um viele philosophische Fragen, um Fragen der Gerechtigkeit etwa. Gibt es so etwas wie Gerechtigkeit überhaupt? Bin ich gerecht zu meinem eigenen Kind? Bin ich gerecht zur Gesellschaft?

A. T. R.: Haben die Frauen irgendwann einmal die Peiniger*innen damit konfrontiert, warum sie so agieren?

U. A.: Ich lese gerade ein Buch, in dem die Autorin das thematisiert. Grundsätzlich ist es den Gefängniswärter*innen gar nicht erlaubt, mit den Gefangenen private Gespräche zu führen. Natürlich passiert das doch ab und zu, und die Wärter*innen fragen die Frauen dann, ob ihre Männer sie nicht umbringen, wenn sie wieder draußen sind, eben weil sie im Gefängnis waren. In ihre Lebensrealität passt das alles nicht hinein. Die Frage der anderen Seite ist für mich immer wichtig.

A. T. R.: Mit welchen Strategien haben die Frauen in der Zelle eigentlich überlebt? Was ist mit der Hoffnung? Ist das Thema?

J. F.: Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so einen Gefängnisaufenthalt ohne Hoffnung durchstehen und danach einfach ein normales Leben führen kann. Das, finde ich, kommt auch im Film „Born in Evin“, der sich mit ähnlichen Themen beschäftigt, gut heraus. Die Mutter sagt am Schluss: „Ich schaue nicht zurück, weil ich diesen dunklen Dingen keinen Platz einräumen will.“ Man konzentriert sich auf die Hoffnung und auf das, was man selbst ändern kann, nicht auf das Furchtbare, das einem passiert ist, und so lässt man sich nicht unterkriegen. Wir sind gerade dabei, herauszufinden, mit welchen Tricks die Frauen das geschafft haben.

U. A.: Es ist wichtig, sowohl diese Strategien als auch die Strategien der Gegenseite zu studieren. Eine Frau, von der ich gerade lese, bereitete sich richtiggehend auf das Gefängnis vor. Sie wusste, was sie bei den Verhören erwartet, und ließ sich dadurch nicht so fertigmachen. Sie war viel weniger angstgetrieben als andere, die unvorbereitet waren und dadurch bei den Verhören in Panik verfielen und die Mechanismen, mit denen man sie brechen wollte, nicht durchschauen konnten.

J. F.: Eine andere Strategie war, dass die Frauen gemeinsam kochten oder durch die Anwesenheit der Kinder einen regelmäßigeren Rhythmus hatten und sich überlegten, wie sie die Kinder unterhalten konnten. Sie erzählten ihnen dann Geschichten oder spielten Theater für sie. Aber manche erzählt auch, dass sie so schwach waren, dass sie gar nicht die Kraft hatten, an ihre Kinder zu denken. Dann gab es auch noch den Faktor, dass man einen gewissen Ruhm erlangte, wenn man im Gefängnis war.

U. A.: Ich lese auch gerade ein Buch mit den letzten Briefen von zum Tode Verurteilten, und es ist auffällig, wie oft diese Menschen davon schreiben, dass sie jetzt am Ziel angekommen sind und hoffen, dass die Partei, für die sie gekämpft haben, sie als Märtyrer*innen akzeptiert.

A. T. R.: Ist das nicht fast vergleichbar mit dem, was man von Selbstmordattentäter*innen weiß?

J. F.: Dazu habe ich einen interessanten Artikel einer Religionswissenschafterin gelesen, die herausgefunden hat, dass der Unterschied zwischen Selbstmordattentäter*innen und Leuten, die aus aktivistischen Gründen im Gefängnis sind, der ist, dass die Aktivist*innen an das Leben glauben, während die Selbstmordattentäter*innen den Tod verherrlichen.

A. T. R.: Es ist natürlich ein Dilemma. Du bist kurz vor dem Tod und willst deinem Leben einen Sinn geben. Das ist eigentlich auch ein zutiefst menschliches Verhalten. Und hier kommen natürlich wieder die Kinder ins Spiel, weil man in ihnen ja irgendwie weiterlebt. Du machst dich zur*m Märtyrer*in als Erklärung für dein Kind, damit nicht alles umsonst war.

U. A.: Die Gefangenen waren sich ja oft gar nicht sicher, ob ihre Angehörigen die Briefe jemals bekommen würden. Vielleicht wurden die Briefe deshalb so geschrieben. Aber sie wussten, dass ihre Abschiedsbriefe auf jeden Fall von den Gefängnisbehörden gelesen werden. Ich denke, dass viele diese Briefe deshalb auch als ihr letztes Statement, ihre letzte widerständige Handlung dem System gegenüber gesehen haben. Man wollte den Peiniger*innen noch ein letztes Mal klar machen, dass man stolz ist auf das, was man gemacht hat.

 

Arash T. Riahi ist 1972 im Iran geboren und lebt seit 1982 in Österreich. Studium der Film- und Geisteswissenschaften, von 1995 bis 2002 freier Mitarbeiter bei den ORF-Sendungen Nitebox, aktuelle Kultur und Kunst-Stücke. 1997 Gründung der Film- und Medien-Produktionsfirma Golden Girls Filmproduktion. Diverse prämierte Dokumentar und Spielfilme sowie Kurz- und Experimentalfilme. Darunter Exile Family Movie, Ein Augenblick Freiheit (offizieller österreichischer Kandidat für den Auslandsoscar 2010), Kinders, Everyday  Rebellion. Ko-Produzent von Solo (Cannes 2019) und Born in Evin (Berlinale 2019). goldengirls.at

 

 
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