TQW Magazin
Sophia Rohwetter über The Myth: last day von Netti Nüganen

Archäologie im Angesicht des Todes

 

Archäologie im Angesicht des Todes

Netti Nüganens Performance The Myth: last day bewegt sich, wie der Titel bereits andeutet, zwischen mythologischer Ursprungserzählung und Endzeitszenario und entwickelt sich dabei von Theater über Tanz zum Black-Metal-inspirierten Doomsday-Konzert.

Alles beginnt mit einer Ruine. Aufgeschüttet auf einer Patchworklandschaft aus alten Jeans- und anderen Stoffresten, von Sand und Steinen verdeckt, verweist sie auf eine verborgene, vergangene, andere Zeit. Wir warten. Nichts passiert, nichts bewegt sich, die Vergangenheit liegt still vor uns. Nach einer Weile beginnt die (end-)zeitliche Formation zu bröckeln. Einzelne Fragmente eines desorganisierten Körpers, erst ein Fuß, dann eine Hand, treten hervor, bis sich Netti Nüganens nackter Körper schließlich vollständig aus den ruinierten Zeitschichten herausschält. Aus Ruinen auferstanden, wird die Untote zur Archäologin, die mit (pseudo-)wissenschaftlichem Blick die mit ihr versunkene Umgebung wie eine historische Ausgrabungsstätte in Augenschein nimmt. Mit sandigen Händen und verstaubten Werkzeugen kehrt sie die Überreste ihrer eigenen Vergangenheit hervor, Objekt für Objekt: ein Stretchband, ein Ei, eine PET-Flasche, deren flüssiger Inhalt nach einer Geschmacksprobe als Limonade identifiziert wird, eine Steinformation („heavy like my head“), Kaffeebohnen, eine Handtasche, zu lange Hosenbeine, einen Golfball, ein tödliches Gift, Casino-Jetons, ein Roulette-Rad. Es sind Konsumfragmente einer glücksspielverschuldeten, kapitalistischen, von unserer Gegenwart nicht allzu fernen Vergangenheit, die von der Archäologin schnell auf die „early 2000s“ geschätzt wird. Analytisch kommentiert sie ihre Ausgrabungen und dokumentiert das Gesagte mit einem aus der Zeit gefallenen Kinderkassettenrekorder.

Ihr grabungsarchäologisches Vorgehen – „in Augenschein nehmen, befragen, Schutt wegschaffen, Relikte aufdecken, Befunde bestimmen, enthüllen, ergänzen, rekonstruieren“[1] – ähnelt dem psychoanalytischen Prozess des Freilegens verdrängter Objekte und Erinnerungen, wie ihn Sigmund Freud in seinem Versuch, die Psychoanalyse als wissenschaftliche Methode zu etablieren, gerne erläuterte.[2] So schrieb Freud 1899 an Wilhelm Fließ über die Analyse seines Patienten E. mit Verweis auf den berühmten und von ihm hochverehrten Archäologen Heinrich Schliemann: „Tief unter allen Phantasien verschüttet fanden wir eine Szene aus seiner Urzeit […], die allen Anforderungen entspricht und in die alle übriggelassenen Rätsel einmünden. […] Es ist, als hätte Schliemann wieder einmal das für sagenhaft gehaltene Troja ausgegraben.“[3] Bestimmt Freud mit den Metaphern archäologischer Aktivitätsformeln die Psychoanalyse als einen Prozess des Aufdeckens, Enthüllens, Entzifferns, Übersetzens und Erschließens, bleibt die dadurch evozierte Vorstellung eines unverstellten Zugangs zur Vergangenheit ein für alle Zeiten unerreichbares Wunschbild.

Auch in der Performance bringt die archäologische Ausgrabung nicht das Licht der Wahrheit der Vergangenheit zum Vorschein. Vielmehr wird die Archäologin, die im Grunde eine Archäologie ihres Selbst betreibt, beim Versuch die Vergangenheit aufzuarbeiten und zu objektivieren, mit Bildern ihrer eigenen Vergänglichkeit konfrontiert: Ein phantasmatisches Gegenüber prophezeit ihr ihren baldigen Tod, ein maskierter Anderer (der Tod höchstpersönlich?) umkreist Grabungsstätte und Publikum und entwendet Zuschauer*innen ihre Handys, auf denen er Selfies und Todesbotschaften hinterlässt. Das archäologisch-psychoanalytische Ordnungssystem zerbricht an der Wahrheit des Todes und mündet in einen Death-Metal-Exzess. „Constructions cannot hold the decay“, schreit Netti Nüganen wiederholt. Dem Tod geweiht buchstabiert sie die Worte „S-K-E-L-E-T-O-N“ und „E-D-G-E“, dazwischen growled sie alltägliche Beschwerden („The plate is too small at the breakfast buffet“) und aggressiv-komische Drohungen („I flatten you like a pancake“). Die wissenschaftliche Grabungsstätte wird zum Trümmerfeld des Todes, die sandige Ruine der Vergangenheit verflüchtigt sich zu Staub, „und der tödliche, der Staub / Der Todesgötter zehret sie aus / Und ungehaltnes Wort und der Sinne Wüthen“[4].

 

 

Sophia Roxane Rohwetter arbeitet als Kunstwissenschaftlerin und Kunstkritikerin in Wien. Sie studierte Kulturwissenschaften, Kunst und Philosophie an der Leuphana Universität Lüneburg, mit Auslandsaufenthalten an der Zürcher Hochschule der Künste und am Bennington College in Vermont. Derzeit schließt sie den Master in Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien mit einer Arbeit über das Tragische und Komische im Werk von Mike Kelley ab. Sie schreibt regelmäßig Kunstkritiken, u.a. für Texte zur Kunst und Spike Art Magazine, und hat zahlreiche Essays für wissenschaftliche Sammelbände und Ausstellungskataloge verfasst.

 

[1] Claudia Benthien, Hartmut Böhme, Inge Stephan, „Meine Vorliebe für das Prähistorische in allen menschlichen Formen – Zur Einführung in diesen Band“, in: Freud und die Antike, hg. von Claudia Benthien, Hartmut Böhme und Inge Stephan, Göttingen, 2011, S. 9–30, hier S. 13.
[2] So konstatiert Freud beispielsweise in der Gradiva-Schrift von 1907: „Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder entstehen konnte“; Sigmund Freud, Der Wahn und die Träume in W. Jensens ‚Gradiva‘, Frankfurt a. M. 1995, S. 77.
[3] Sigmund Freud, Briefe an Wilhelm Fließ. 1877–1904, hg. von Jeffrey Moussaieff Masson, Frankfurt a. M. 1986, S. 439 (Brief vom 21.12.1899).
[4] Friedrich Hölderlin, „Antigone“, in: Michael Franz, Michael Knaupp, D. E. Sattler (Hg.), Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Bd. 16: Sophokles, Basel/Frankfurt a. M. 1988, S. 261ff., hier V 620ff., S. 327.

 
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