Atmen, ersticken und keinen Boden unter den Füßen: verletzte Körper, verletzte Landschaften
Claudia Bosse zeigt im Tanzquartier Wien HAUNTED LANDSCAPES or the breathing out of earth, den vierten Teil ihrer Performanceserie haunted landscape/s, in der sie sich mit Körpern in ruinierten Landschaften und Landschaften als ruinierten Körpern auseinandersetzt. Die Arbeit führt ein Thema weiter, das in einer Performance auf einer Brache in der Seestadt Aspern bereits aufgegriffen worden ist: Wie lässt sich weiterleben in den Ruinen des Kapitalismus? Mit welchen zeitlichen Polyfonien, mit welchen Vergangenheiten und Zukünften hat die sogenannte Gegenwart umzugehen? Die Seestadt Aspern hat sich als ein fantastischer Ort erwiesen, um zu lernen, über diese Fragen nachzudenken. Diesmal also Tanzquartier, mitten in der Stadt. Die Fragen bleiben die gleichen und lassen sich auf dem Weg von der Peripherie ins Zentrum nicht abschütteln. Nur der Blickwinkel verschiebt sich, wird im geschlossenen Raum konzentrierter. Die Seestadt Aspern hatte hier und da noch Ablenkung „geboten“ und verschiedenste Gegenwarten gleichzeitig in der Luft gehalten. Das Tanzquartier Wien bietet diese Möglichkeit nicht, auch wenn das Setting nicht darauf ausgerichtet ist, ein bequemes Zuschauen zu ermöglichen. Landschaften und Körper sind einigermaßen erschöpft und doch dazu verdammt, weiterzumachen, weiterzuatmen, sich weiterzubewegen. Stillstand ist keine Option, aber Bewegen und Atmen sind nicht nur Befreiung und Neuanfang, sondern auch Arbeit. Und die wird in der Performance auf so drastische Weise spürbar, dass die derzeit beliebte Vokabel Resilienz zur inhaltsleeren Formel wird. Die vielschichtige, bedeutungsoffene Ästhetik des theatercombinats um Claudia Bosse verhält sich zu solchen Formeln wie ein Reality-Check mit den Mitteln der Poesie. Körper und Landschaften sind kapitalistischen und kolonialen Zumutungen ausgesetzt und kriegen kaum noch Luft. Die Erde wird misshandelt und gestresst, aber sie stresst auch zurück. Sie riecht nach Gummi und zeigt sich als „gemischter“ Zustand nicht nur zwischen Natur und Kultur, sondern auch zwischen Versicherung, Versorgung und Destabilisierung. Erde ist „flache Ontologie“ im Sinne Bruno Latours, dessen Denkarbeit hier nicht nur performativ aktualisiert (und politisiert) wird. Sie ist darüber hinaus auch ganz buchstäblich anwesend, wobei die Buchstaben ANT (Abkürzung von Akteur-Netzwerk-Theorie) allerdings dort angebracht sind, wo in der Halle G üblicherweise das Publikum sitzt. Bruno Latour wäre aber ganz und gar einverstanden: Publikum und Erde sind gleichermaßen Konzept wie Materie. Ameise, Aktant*in, Akteur*in oder Akteur-Netzwerk-Theorie: Die Bewegungen der großartigen Performer*innen Marcela San Pedro, Lena Schattenberg, Carla Rihl, Jianan Qu, Irwan Ahmett und Claudia Bosse spielen sämtliche Assoziationen mit den drei Buchstaben durch und steuern mit großer Präzision die Sollbruchstellen zwischen Ausführung und Begrenzung von Bewegungen an. Sie erforschen damit das, was Latour als die Knotenpunkte von Handeln und Behandeltwerden beschrieben hat: Handlung und Bewegung sind nicht aktive Pendants zum passiven Behandelt- und Bewegtwerden. Handeln und Bewegen sind nur die – mehr oder weniger aktiven – Antworten auf das Behandelt- und Bewegtwerden. Agieren ist Re-Agieren auf Um- und Zustände, zum Agieren lässt man sich hinreißen, und vor allem: Das Agieren ist kein Privileg des menschlichen Körpers. Die Körper der Performer*innen bewegen sich daher in einer Ästhetik, die nicht das Innere nach außen bringt, sondern die Knotenpunkte und nebulösen Grenzverläufe von Innen und Außen ästhetisch bearbeitet. Das Publikum ist nahe dran an den Performer*innen, auch die Grenze zwischen Bühne und Auditorium ist einem gemischten Zustand gewichen, in dem sich die Perform*innen nicht aus sicherer Distanz beobachten lassen. Ihr Atmen unter erschwerten Bedingungen synchronisiert sich mit dem Atmen der Zuseher*innen. Die Luft im Raum ist geteilte Ressource und muss für alle reichen. Allein der Gedanke kann das eigene Atmen aus dem Takt bringen. Und wenn die Luft im Tanzquartier Wien vielleicht gerade noch reicht, wird der Boden unsicher. Mehrere Schichten tun sich auf und zwingen zu migrierenden Bewegungen im Raum. Einige tragen ein „eigenes“ Stück Erde in Säcken mit sich herum, wie sie bei Überflutungen verwendet werden. Schon als Sitzgelegenheit und Kissen bietet der Sack nur eine mittelmäßige „comfort zone“. Wenn er später von Einzelnen im Raum umhergetragen wird, verstärkt sich dieser Effekt umso mehr: Dem Eisbär schmilzt die Scholle weg, und das Publikum läuft im Tanzquartier etwas ziellos mit dem „eigenen“ Sack Erde durch den Raum, der auf lange Sicht vermutlich nicht reichen wird und der auch wenig Freude macht, wenn man ihn allein bewohnt. Manche legen ihn gleich weg, andere scheinen sich an ihm festzuhalten (oder umgekehrt). Die „Anhänglichkeiten“ verlaufen wohl in beide Richtungen.
Verletzte Landschaften üben Verletzungen aus, an anderen Landschaften, an Körpern, an Diskursen. Sie erzwingen nicht nur physische Bewegung, sie verlangen auch neue Denk- und Überlebensstrategien, die eher prekär als dauerhaft angelegt sind. In jedem Fall werden sie das Denken stärker „einbetten“ (müssen) in seine notwendigen Umgebungen. „I often fall in love with wounded landscapes; landscapes that are scary because violence has been done to them“, heißt es an einer Stelle im Text. „They are environments of ecological catastrophes; but they make me calm, they fascinate me, they make me awake.“ Ganz im Sinne der Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing, die sich in ihrem Buch Der Pilz am Ende der Welt mit dem auseinandersetzt, was sie die „dritte Natur“ nennt, mit dem also, was in brachliegenden, verletzten, ausgebeuteten Landschaften weiterzuleben vermag, geht es hier um den Versuch, Verflechtungen denk- und wahrnehmbar zu machen, die wir bislang nur erahnen: „Es ist nun an der Zeit“, heißt es bei Tsing, „neue Mittel zu finden, mit denen sich auch jenseits zivilisatorischer Grundprinzipien wahre Geschichten erzählen lassen. […] Wie sonst sollten wir erklären können, dass trotz des Unheils, das wir angerichtet haben, überhaupt noch etwas am Leben ist?“
Andrea Seier ist Professorin für Kulturgeschichte audiovisueller Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen eine mikropolitische Perspektivierung audiovisueller Medien, mediale Technologien des Selbst, Theorien der Schwäche (Betroffenheit, Passivität, Verletzbarkeit), Klassenfragen und Gender-Media-Studies.