TQW Magazin
Rabea Grand über Ayur von Radouan Mriziga

Ayur – der Kreis des Lebens dreht und dreht sich

 

Ayur – der Kreis des Lebens dreht und dreht sich

Vogelgezwitscher. Eine Kuppel, gebaut aus langen Papprollen. Eine Frau mit silbergrauem gelocktem Haar. Sie erinnert an eine Figur aus einem Kindheitstraum, schwer zu sagen, wie alt sie ist. Alles an ihr sprüht vor jugendlicher Energie, sie ist aber keine junge Frau – oder doch? Sie trägt Silberlocken, wie es in einem der Gedichte zum Stück heißt. Und sie bewegt ihren Körper in feinen Linien, immer wieder dieselben Abläufe. Dieser Frauenkörper, weder alt noch jung, voller Kraft und trotzdem zerbrechlich, fremd und gleichzeitig vertraut, strahlt unglaublich viel Ruhe und Zuversicht aus. Einfach so, ohne etwas zu erzwingen, mühelos. Ich möchte ihre Hand halten, die Hand der punischen Mondgöttin Tanit. Ich möchte sie spüren, ihre Hand, ihre Stärke, ihre Zuversicht und Ruhe. Ich möchte ein Teil von ihr sein.

Bereits beim Einlass ins Theater fühle ich mich gut aufgehoben. Sechs Seiten mit Gedichten und Rap-Texten in deutscher Übersetzung werden verteilt. Auf der ersten Seite spricht der Choreograf Radouan Mriziga die Zuschauer*innen in einem kurzen Absatz direkt an. Er lädt sie dazu ein, die Arbeit als ein choreografisches Objekt zu betrachten. Die Gedichte und Rap-Texte, die später von der Tänzerin Sondos Belhassen auf Tunesisch-Arabisch gesprochen werden, seien als Partituren zu verstehen. Die Worte und Wendungen sollen nicht dazu dienen, die Bewegungen zu erklären oder ein lineares Narrativ herzustellen, sie seien Werkzeuge mit symbolischer, rhythmischer und kompositorischer Bedeutung.

Ich fühle mich eingeladen! Und bin gerührt über die Feinfühligkeit dieser Sätze. Kein bisschen didaktisch, ein ehrlich gemeintes Angebot, die mich dabei unterstützt, mich diesem choreografischen Objekt mit allen Sinnen zu öffnen und die sprachliche/intellektuelle Ebene in den Hintergrund gleiten zu lassen. Ich behaupte gern, ich hätte einen sehr intuitiven Zugang zu Kunst. Aus dem Bauch heraus, nicht so verkopft. Das stimmt wohl nur so halb, wenn überhaupt. Die Sozialisation im eurozentristischen Kunstsystem und deren Geschichtsschreibung haben ihre Spuren hinterlassen. Doch an diesem Abend fühle ich mich ein wenig freier als sonst. Der Choreograf hat darauf verzichtet, die Texte mit Übertiteln simultan im Raum übersetzen zu lassen. Die Gedichte von Lilia Ben Romdhane und die Rap-Texte von Mehdi Chammem „Massi“ können auf den sechs Seiten nachgelesen werden. Sie entwickeln sowohl gelesen und für sich selbst stehend als auch in einer mir fremden Sprache gehört eine eigene performative Intensität. Der Text, die Bewegungen, der Klang, die Tonalität der Stimme, die Körperlichkeit, das Licht, der Sound, das Objekt auf der Bühne – alles fließt ineinander, ergänzt und verstärkt sich gegenseitig.

Seit 2019 arbeitet Radouan Mriziga an einer Trilogie von choreografischen Werken – Tafukt, Ayur und Akal –, die von der Kultur und der Geschichte der Imazighen, eines indigenen Volks Nordafrikas, inspiriert sind. In allen drei Teilen stehen weibliche Figuren im Zentrum, sie gelten als Hüterinnen der Überlieferung von Amazigh-Wissen. Obwohl die Imazighen in großen Teilen Nordafrikas jahrhundertelang eine wichtige Rolle gespielt haben, wird ihr Wissen ignoriert, sind sie von alltäglicher Marginalisierung und struktureller Unterdrückung betroffen.

Über die Beschäftigung mit den Mythen der Imazighen stellt sich der Choreograf in der Trilogie die Fragen: Kann Tanz ein Instrument des Widerstands sein, um aktuelle Gesellschaftmodelle zu überdenken und sich eine inklusivere Zukunft vorzustellen? Kann Choreografie Lücken in unserem historischen Gedächtnis schließen? Und wie beeinflusst indigenes Denken, das der Kanon westlicher Gesellschaften mit deren Projekt der Moderne lange Zeit als rückständig und unaufgeklärt diskreditiert hat, noch immer die Gegenwart?

Auch ohne Bezug oder viel Wissen über die Imazighen fühle ich mich verbunden mit Ayur und der Tänzerin Sondos Belhassen. Ich glaube zu verstehen. Wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. An solchen Abenden spüre ich Zuversicht, Ruhe, Kraft. Ich weiß, es kommen wieder andere. Aber etwas wird bleiben. Da bin ich sicher.

 

Rabea Grand studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Soziologie und arbeitet seit 2011 in verschiedenen Positionen in der freien Theater- und Tanzszene in der Schweiz, u. a. bei Reso – Tanznetzwerk Schweiz, als freie Produktionsleiterin sowie bei den Festivals AUAWIRLEBEN und Theater Spektakel. Davor war sie von früher Kindheit an Leistungssportlerin (Ski alpin). Seit 2020 arbeitet sie als künstlerische und geschäftsführende Co-Leitung an der Gessnerallee Zürich, wo sie seit 2021 für die Koordination des künstlerischen Programms zuständig ist.

 

 
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