TQW Magazin
Kathrin Heinrich über The Dancing Public von Mette Ingvartsen

Ballett der Unsicherheiten

 

Ballett der Unsicherheiten

Der Titel hatte es eigentlich bereits verraten: Mette Ingvartsens The Dancing Public gewährt dem Publikum keinen Sicherheitsabstand – keine Sitzreihen, keine Bestuhlung, keine vierte Wand, die spielerisch gebrochen wird. Das Publikum selbst wird zum Aufführungsort, die Menschenmenge zur Öffentlichkeit, auf die sich Ingvartsen bezieht und deren Aktivierung integraler Bestandteil der Performanceerfahrung ist.

Die Szenerie gleicht einem Club: ein schwarzer Raum, erhellt von einigen wenigen vertikal montierten Neonröhren. Zum monotonen Beat mischt sich Ingvartsen unter die Zuschauer*innen und regt zum Tanzen an, gleich einer Animateurin auf einem Kreuzfahrtschiff.

Um „Tanzwut“ geht es in The Dancing Public, das historische Phänomen des „kollektiven ekstatischen Ausbruchs von unerbittlichem Tanzen, körperlichen Zuckungen, Krämpfen und unkontrollierten Bewegungen“, wie es im Begleittext beschrieben ist. Ingvartsens Spoken-Word-Performance zeichnet verschiedene historische Beispiele nach und versucht, sie mit der Gegenwart zu verbinden.

Pest, Flut, Hunger, Kindsmord rufen diese Tanzwut hervor, die Ingvartsen nun auf die heutige gesellschaftliche Situation der COVID-Maßnahmen umlegen zu wollen scheint. Ein Vergleich, der jedoch mehrfach hinkt; denn weder entsprechen die beschriebenen – und teils grotesk irritierend performten – körperlichen und psychischen Traumata einer befreienden Katharsis, noch befinden wir uns bereits in der im Text beschworenen „postpandemischen Gesellschaft“.

They’re going to take it off – the mask

Ein Blick ins Publikum verrät, dass der mantraartig vorgetragene Vers nicht von allen im gleichen Maße als Moment der Befreiung angesehen wird. Ein großer Teil trägt Maske, die Unsicherheit im „Club“-Setting ist zu spüren. Einerseits sind das jene Unsicherheiten, die sich auf jeder Tanzfläche abspielen: Während sich manche wirklich mitreißen lassen und ausgelassen tanzen, wippen viele eher beiläufig mit, während wieder andere eher unsicher am Rande stehen oder sich auch am Boden niederlassen.

Andererseits meine ich auch zu spüren, wie ungewohnt das Club-Setting für viele nach wie vor ist: Wie nah ist zu nah? Mir stellt sich unweigerlich die Frage nach den vulnerablen Gruppen, zu deren Gunsten die Maske weiterhin empfohlen wird. Genau jene, die Ingvartsen in ihrer Performance im historischen Kontext erwähnt, ihre Zuckungen, Verzweiflung, Selbstverletzungen jedoch in achtlose Tanzgesten umzuwandeln scheint. Ihr vermeintlicher cry of relief fühlt sich trotz zunehmender Lockerung der Maskenpflicht deplatziert und verfrüht an.

Emotional relief / a sea of bodies becoming a mass dance

Es bleibt unklar, inwiefern die „Tanzwut“ gleichzeitig als Krankheit und als Symptom, als Reaktion und als Bewältigungsstrategie sowie als Mittel der emotionalen Heilung, des Loslösens, der Katharsis fungieren soll. Es sind widersprüchliche Dimensionen, die in ihrer Gesamtheit als Verharmlosung eines oftmals tödlichen Phänomens wirken, das zum Partyevent umgedeutet wird.

Unweigerlich stellen sich mir Fragen wie: Ist die Zurückhaltung des Publikums bewusst Teil des Konzepts? Eine einkalkulierte Unsicherheit, die sich in ihren Bewegungen – oder deren Abwesenheit – manifestiert? Lädt Ingvartsen die Besucher*innen geschickt zur Selbstreflexion ein oder bezweckt sie tatsächlich ein unbehelligtes Sichmitreißenlassen, die Nachahmung ihrer sich teils messiasgleich inszenierenden Anführerinnenfigur?

Auf allen Vieren durch die Menge kriechend bellt sie wie ein Hund, dann wieder wirft sie sich – in gleißend helles Licht getaucht – kreuzigungsartig über eine der Neonröhren hoch oben auf einem Podest. Der Beat droppt, das Stroboskop blitzt. So sehr ich mir selbst nach über zwei Jahre Pandemie diesen Moment des Aufatmens und Loslassens wünschen würde, wirkt die Zelebrierung der historischen „Tanzwut“, die oftmals zu erschöpfungsbedingten Zusammenbrüchen und zum Tod führte, als befreiende Reaktion auf Covid-19 für mich gerade zu absurd. Ist Krankheit wirklich ein Fest?

 

Kathrin Heinrich ist Kunsthistorikerin und Kritikerin. Sie ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Forschungsprojekts Addressing Amnesia, Performing Trauma an der Universität für angewandte Kunst Wien. Veröffentlichungen unter anderem in Der Standard, Springerin, Süddeutsche Zeitung, Art Basel Stories, Eikon, PW-Magazine und Arts of the Working Class, sowie Textbeiträge für die Kunsthalle Wien, das Salzburg Museum oder das Künstlerhaus Wien. 

 

 
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