TQW Magazin
Melanie Sien Min Lyn und Sofia Mascate über Rakete Part 3: Luisa Fernanda Alfonso, verena herterich

Einmal Blinzeln und das war’s

 

Einmal Blinzeln und das war’s

Kennst du diese Momente direkt nach dem Aufwachen ohne Wecker, in denen deine Augen noch geschlossen sind, sich das Zimmer um dich herum aus Umgebungsgeräuschen dem Körpergedächtnis zusammensetzt und die Konturen deines Bewusstseins skizziert?

Zu Beginn der ersten Szene von Masterpiece begrüßt uns Luisa Fernanda Alfonso, auf einem Lautsprecher sitzend. Sehnsuchtsvoll starrt sie ins Publikum und schafft mithilfe des Soundtracks die Atmosphäre für die folgenden Duette. Umgeben von einem Chor aus in Stoff gehüllten Lautsprechern, ähnelt das Bühnenbild einer Reihe klassischer Statuen.

Liege ich auf der linken oder rechten Seite vom Bett? Ist das Fenster hinter mir oder an der Wand gegenüber? Bis ich die Augen geöffnet habe, ist meistens alles an der richtigen Stelle. Aber manchmal erwartet sie eine kleine Überraschung, wenn sie sich öffnen, wenn zum Beispiel die Wand in eine andere Richtung davongerutscht ist.

Das Stück besteht aus langen geloopten choreografischen Sequenzen und Wehklagen. Wie ein Medium, ein Kommunikationskanal, singt und klagt Alfonsos gesamter Körper: Das Gesicht ist verzerrt, die Lungen heben und senken sich und der Mund bewegt sich zu einem traurigen, eindringlichen Lied, das der Assistent auf einem Laptop spielt. Schall-Ektoplasma aus einer Ansammlung von Lautsprechern, groß und klein, die über die gesamte Bühne verteilt sind. Und manchmal kommt der Ton aus Alfonsos Kehlkopf. Aber sie scheint kaum im vollen Besitz ihres eigenen Körpers zu sein, armes Ding.

Mir kommt vor, dass das meistens passiert, wenn ich mich kurz hinlege.

Die Lautsprecher bilden das Gerüst der Performance, sie sind sowohl Akteure als auch Bühnenbild. Sie sind die physische Manifestation der stilistischen Normen, die die Performerin mithilfe ihrer Bildsprache verhandelt. Die lateinamerikanisch kodierten Tanzbewegungen, die in ihren Körper eingeschrieben sind, werden zunehmend leidenschaftlicher, während ihr Gesicht eine Reihe melodramatischer (Seifen-)Operngesten durchläuft. Wie das zwanghafte Zappen mit einer Fernbedienung. Channel surfing. Sie ist eine sitzen gelassene Geliebte, eine trauernde Witwe, ein geiler Stier, ein Miststück, eine Liebhaberin, ein Kind, eine Mutter, eine Sünderin, eine Heilige.

Einmal blinzeln und das war’s.

 Stierkämpfer ziehen triumphierend in die Arena ein und manifestieren damit die bevorstehenden Stiche in den Rücken des Tieres. Die Monumentalität ihrer Bewegungen knüpft die Tänzerin an kulturelle Traditionen jenseits derer, auf die sie sich bezieht und die sie hinterfragt. Die Performerin vereint die Kühnheit eines gewitzten Matadors in all seiner übersteigerten Männlichkeit mit der tiefgehenden Empfindsamkeit gebrochener Herzen und unerwiderter Liebe. Sie führt das Publikum durch emotionsgeladene Räume, die die Ambivalenz traditioneller kultureller Praktiken aufzeigen.

Ich schließe die Augen.

In meiner Erinnerung finde ich bei einem Fado-Konzert wieder, in der intimen Hinterzimmer-Enge einer Tasca, und lausche dem traurigen Gesang, dem ausgiebigen Gebrauch von Rubato, der dunklen Stille. Szenenwechsel: Ich schaue mir in einer überfüllten Arena eine Tourada an, sämtliche Oberflächen klebrig von verschüttetem Bier, der Geruch von Urin, unbeholfene Machos in extravaganter Kleidung. Ersteres ist ein bedeutsames musikalisches Erbe, letzteres praktizierter Tiermissbrauch, der durch ein chauvinistisches Selbstverständnis aufrechterhalten wird. Zwei geschlechtsspezifische Klischees für eine aufmerksame iberische Zuschauerin.

„Ich schlief wieder ein, und wachte nur zuweilen kurz auf, gerade lange genug, um das lebendige Knacken im Gebälk zu hören, die Augen zu öffnen, um das Kaleidoskop der Dunkelheit anzuhalten und in einem kurzen Bewusstseinsschimmer den Schlaf zu würdigen.“[1]

In prekären wie auch in konservativen kulturellen Umfeldern hat die Erhaltung der Tradition oberste Priorität. Der Tradition wird dabei eine statische Dimension zugeschrieben, wodurch ihre normative Logik nicht in Frage gestellt werden kann. Den Bemühungen, diese kulturellen Praktiken unangetastet zu lassen, zum Trotz, verwandeln sie sich dennoch in Karikaturen ihrer selbst. Gentrifizierungsprozesse werden durch derart übertriebene Vorstellungen einer romantisierten Vergangenheit befeuert. Tradition hält öffentlicher Abneigung und Protest stand, sie bleibt Teil der kollektiven Vorstellungswelt.

Blinzel.

Die Wiederholung choreografischer Sequenzen schließt den Assistenten und Komponisten Peter Rubel mit ein, der Alfonso exakt nachahmt. In ihrer Abwesenheit schlüpft er in die „Arbeitsuniform“ mit Rüschenärmeln, da er nun zu ihrem Stellvertreter geworden ist – angewiesen, ihre Bemühungen fortzusetzen.

Schlafen bedeutet, die Augen zu schließen und sie nach einiger Zeit wieder zu öffnen.
Blinzeln bedeutet, die Augen zu schließen und sie nach sehr kurzer Zeit wieder zu öffnen.
Was liegt dazwischen auf dem Spektrum von Schlafen und Blinzeln?

In verena herterichs Myrth werden die krachenden, rauen Klänge einer Gesteinsumformung im Raum verstärkt. Was wir auf der Bühne hören, sind aber keine Steine. Es ist die hörbare Andeutung von Steinen, eine tonmeisterlich erzeugte Erinnerung an das Suchen nach einem Stein zum Weitwerfen. Die Steine bleiben irgendwann am Bühnenrand liegen, und die Performerin krümmt sich und posiert in einer längeren Bewegungssequenz und fordert das Publikum auf, zurückzustarren.

Und ich wehre mich dagegen.

Die Performerin wäscht die Sohlen ihrer schwarzen Turnschuhe mit Wasser aus einer kleinen Lacke, die in schwarzes Plastik eingefasst ist.

Ich schließe die Augen.

Ein Kreisel dreht und dreht sich. Ein Präzessionsgyroskop. Auf meiner Fingerspitze balanciert ein Fidget Spinner.

Ich öffne die Augen.

Kieselsteine prasseln auf die Bühne, eine Staubwolke steigt auf.

Mein Blinzeln versetzt die flüssigen Bewegungen in einen Staccato-Rhythmus. Ich blinzle langsam und es ist wie eine Irisblende – dann öffne ich die Augen wieder, und die Szene hat sich verändert. Ich blinzle noch langsamer und halte meine Lider 5 Sekunden lang geschlossen. 10 Sekunden? Ich behalte das letzte Bild in meinem Kopf wie ein Standbild. Zeitlupenstroboskop. Aber auf den Ton hat meine Zeitreisen-Spielerei keinen Einfluss, daher befinde mich in einem zeitlichen Ablauf, der einerseits linear und andererseits nicht-linear ist. Meine Augen öffnen sich und finden sich in der Erinnerung einer neuen Position wieder. Warum sollte es nicht genau dort weitergehen, wo es zuvor aufgehört hatte? 

„Vielleicht ist den Dingen um uns her die Unbeweglichkeit nur aufgezwungen durch unsere Gewissheit, dass sie sie selber seien und nichts anderes, durch die Unbeweglichkeit unserer Vorstellung von ihnen.“[2]

Eine Handvoll Reis in einer Konservendose kann sich wie Regen anhören. Das Gehirn ist sehr gut darin, Leerstellen zu füllen.

Denken bedeutet, Worte und Bilder bewusst im Kopf entstehen zu lassen.
Träumen bedeutet, Worte und Bilder unbewusst im Kopf entstehen zu lassen.
Was bedeutet es dann abzudriften, also sich sowohl auf das zu konzentrieren, was vor einer*m liegt, als auch auf das, was in einer*m ist?

Handlungszusammenfassungs-Sandwiches bei der After-Show-Party.

Mir kommt vor, dass mir das bei Tanzperformances besonders häufig passiert.

Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen und nehme mir ein kostenloses Glas Sekt an der Bar. Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen und es ist dunkel draußen, als ich die Mariahilfer Straße entlang gehe. Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen und es ist hell draußen und ich liege im Pyjama im Bett. Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen und werde in meinem roten „Revenge-Skirt“ aus Kunstleder sexuell belästigt. Ich schließe die Augen. Ich öffne die Augen und befinde mich in einem abgedunkelten Raum in den TQW-Studios und höre Lauryn Youden zu, wie sie schlaftrunken aus einem Text vorliest, während uns eine schwerfällige Klanglandschaft umgibt.

„… dann entglitt [meinem Geist] die Lage des Ortes, an dem ich eingeschlafen war, und wenn ich mitten in der Nacht erwachte, wusste ich nicht nur nicht, wo ich mich befand, sondern sogar auch im ersten Augenblick nicht, wer ich war; ich hatte lediglich [ein] Gefühl bloßen Daseins.“[3]

Creepypasta ist ein Slangausdruck für kurze Horrorgeschichten, die über das Internet verbreitet werden. Moderne Online-Märchen, die in allen möglichen Internetforen zu finden sind. In einen bequemen Sitzsack versunken, mit jeder Menge Beifußtee, falle ich in den Wachschlummer von Youdens Prosa.

Medikamente für und Diagnosen von Beschwerden, die die weibliche Psyche betreffen, sind eine raffinierte Form von Creepypasta: mündlich weitergegebene Informationen, die durch das Vermächtnis von Schikanierung und medizinischem Missbrauch aufrechterhalten werden. Immer wieder werden theoretische Verweise zur Mythologisierung der weiblichen Sexualität herangezogen, während sie gleichzeitig aus der Geschichte gestrichen wird. Mit sanfter Stimme trägt Youden Fragmente aus Klartraum-Aufzeichnungen vor, kombiniert mit Berichten über das Versagen eines überbeanspruchten Medizinwesens. Der Nocebo-Effekt. Unser Brauchtum. Gefällig, nachvollziehbar.

Ich wehre mich nicht. Ich lasse den Beifuß seine Wirkung tun und versinke in einen Zustand tiefer Schläfrigkeit.

Ich schließe die Augen.

 

[1] Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 1, Auf dem Weg zu Swann, Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer, Ditzingen 2020.
[2] Ebd.
[3] Ebd.

 

Sofia Mascate ist Künstlerin und lebt in Wien. Zuletzt waren ihre Einzelausstellungen Hypertext in der Galeria Zé dos Bois in Lissabon und Pick Me im BPA Space in Köln zu sehen. Ihre Essaysammlung zur Stilllebenmalerei, Tactical Retraction, ist 2022 im Materialverlag der HFBK erschienen.

Melanie Sien Min Lyn ist Künstlerin, Filmemacherin und Schriftstellerin. Zuletzt wurden ihre Arbeiten beim Dokfest Kassel und beim Performing Arts Festival in Berlin gezeigt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 
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