TQW Magazin
Maurício Ianês über S_P_I_T_, Tag 3

Kann eine utopische Erfahrung innerhalb institutioneller Beschränkungen überleben?

 

Kann eine utopische Erfahrung innerhalb institutioneller Beschränkungen überleben?

Die unendlich vielen Körper, die wir sind, zu benennen, die unendlich vielen Körper, die wir verloren haben, die unausgesprochenen Sehnsüchte, Bewegungen und Möglichkeiten zu benennen, für die diese Körper kämpfen und gekämpft haben, ist ein Akt des Feierns, des Respekts, der Verbundenheit, des Erinnerns, der Fortdauer in Zeit und Raum, aber auch der Einschränkung. Queere Leben sehnen sich einerseits nach Anerkennung, Repräsentation, Benennung und andererseits nach Nichtfestlegung und Entidentifizierung. Indem sie nichtfestgelegt und entidentifiziert bleiben, verschmelzen queere Leben miteinander, sie überschneiden sich, fließen, weichen ab und bahnen sich einen Fluchtweg aus den Aufzwingungen und Instrumentalisierungen – oder besser: Unterdrückungen und Ausbeutungen – einer kapitalistischen, aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht diskriminierenden patriarchalischen Klassengesellschaft. Queere Leben sprengen die Grenzen von Individualisierung und Zergliederung, indem sie durch Fürsorglichkeit, Sehnsucht, Bewegung und Politik am Leben der anderen Anteil nehmen und gleichzeitig ihre Andersartigkeit und Einzigartigkeit bewahren.

Die Performances am letzten Abend des Festivals S_P_I_T_ setzten sich mit diesen Fragen auf einfallsreiche Weise auseinander und luden das Publikum ein, bei den Stücken über Trauer, Deprogrammierung, Freude, Rhythmus und Fürsorglichkeit der diversen Künstler*innen mitzuwirken. Jedes Stück war ein Versuch, innerhalb der institutionellen Grenzen des Festivals eine alternative Zukunft in der Gegenwart zu entwerfen. Die Künstlerin Hyo Lee, die das Künstler*innengespräch am Abend zuvor moderiert hatte, formulierte es so: „Wir sind Feen aus der Zukunft, die in der Gegenwart leben, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie wir anders leben können. Sehen wir zu, dass wir Feen über schlagkräftige Munition verfügen!“

Ein Hinweis zu diesem Text: Ich habe darauf bestanden und werde auch weiterhin darauf bestehen, das Pronomen „wir“ zu verwenden, weil die Performances ein Gefühl von Kollektivität, Gemeinschaft, Anteilnahme und gemeinsamen Erfahrungen vermittelt haben. Es handelt sich dabei nicht um ein universelles „Wir“, sondern um ein gemeinschaftliches.

Partizipation als eine Form der (An-)Teilnahme am Kunstgeschehen ist insbesondere seit den 1960er-Jahren ein gängiger Ansatz in der Performancekunst. Heutzutage gilt sie als Möglichkeit, die Trennung zwischen Künstler*innen, Kunst und Publikum aufzuheben, um einen Raum kollektiver Kreativität zu eröffnen, der die Grenzen der Professionalisierung seitens der Kunstschaffenden und Autor*innen in einer Welt radikaler Arbeitsteilung und -enteignung durchbricht. Partizipation ist zur Regel geworden, insbesondere in linksorientierten politisch-ästhetischen Praktiken. Partizipation ist auch zu einer Form der Enteignung der Arbeit im Kapitalismus geworden. Aber wie können diese Bemühungen, die Regeln der Trennung in unserer Gesellschaft zu brechen, Wirkung zeigen, wenn sie in einem geschützten, kurzlebigen, institutionellen Umfeld dargeboten werden? Und wie kann überhaupt eine Wirkung eintreten, wenn das Publikum und die Künstler*innen physisch durch die traditionelle räumliche Einteilung in Zuschauer*innenbereich und Bühnenraum voneinander getrennt sind? Im Künstler*innengespräch meinte Cibelle Cavalli Bastos, dass die Fixierung auf die Form mit dem Festhalten an einer von patriarchalischer, weißer, eurozentrischer Ästhetik geprägten Lebensweise gleichzusetzen sei. Aber reproduzieren wir andererseits nicht genauso etablierte Formen des Kunstschaffens in der queeren Community innerhalb institutioneller Grenzen? Ich denke schon. Doch die materielle Erfahrung selbst, die Einladung zur Partizipation, selbst wenn sie aufgrund der besonderen räumlichen Beschaffenheit des Tanzquartier nicht immer ganz stimmig ist, könnte uns auch dazu einladen, uns eine andere Welt vorzustellen, eine andere Lebensökonomie, eine andere Politik. Denn die Aufgabe von Kunst (was auch immer man* darunter verstehen mag) besteht darin, mit unserer Vorstellungskraft zu arbeiten. Sie hat transformatorische Potenziale, sie trägt politische Anregungen und Botschaften in sich und sie bietet eine Möglichkeit, sich vorzustellen, wie diese marode Welt sein könnte. Letztendlich ist sie aber nicht selbst eine Transformation, vor allem wenn sie auf die vier Wände eines Theater- oder ähnlichen Raums (eines Museums, einer Kunstgalerie etc.) reduziert ist.

Anthropophagischer Schweiß

Imani Rameses, Veza Fernández und ihre kreativen Partner*innen präsentierten SWEAT SPILLS SPIT, eine performativ-ästhetisch-therapeutische Aktion, die aus einem offenen Workshop entstanden ist. Wir – das Publikum, das bald auch zu Mitwirkenden wurde – betraten den Raum und wurden gebeten, uns um die Bühne herum oder im traditionellen Zuschauer*innenbereich, mit Blick auf die Bühne, hinzusetzen. Beim Betreten des Studios wurde jeder Person ein Wollfaden in die Hand gedrückt. Die Performer*innen saßen bereits im Kreis auf der Bühne, redeten miteinander, sangen, rieben den Plastikboden und einander mit etwas ein, das wie Öl oder Gleitmittel aussah. Der Anblick hatte etwas Beruhigendes. Da war ein Gefühl der Verbundenheit, das unbeschwert und fröhlich war. Zur Begrüßung gab es eine Einführung von Veza Fernández und Imani Rameses. In der Performance hallen die therapeutischen Ansätze der brasilianischen Künstlerin Lygia Clark nach, insbesondere Baba antropofágica (anthropophagisches Sabbern), und Melanie Bonajos Video When the body says Yes, das auf der diesjährigen Biennale in Venedig im niederländischen Pavillon gezeigt wird. Fröhlich-sinnlich verwies das Stück auf die Politik der Fürsorglichkeit und der Berührung, die seit einiger Zeit in vielen queeren künstlerischen Beiträgen präsent ist. Körperliche Verbundenheit, Fürsorglichkeit, Akzeptanz des und Liebe zum Körper sowie Zusammengehörigkeit müssen im Kampf gegen kapitalistische Trennung und Konkurrenz unablässig gestärkt werden. Wir brauchen die Verbundenheit miteinander, wir müssen füreinander sorgen und für die Selbsts, die wir sind, denn im Außen herrschen Krieg und Auseinandersetzung. Manchmal – oft – auch im Inneren.

Es war eine ansprechende Erfahrung, aber das Bühne/Publikum-Setting schmälerte das Potenzial des Stücks. Zum Schluss sagte Rameses: „Nehmt euch Zeit, wieder zu einem Individuum zu werden. Was auch immer das bedeuten mag.“ Diese kurze Aussage war von großer politischer Bedeutung. Es war offensichtlich, dass sich ihr Begriff der Individualität vom zergliederten, weißen, bourgeoisen unterschied, und es tut immer gut, sich vorzustellen und zu spüren, dass diese Barrieren automatisierter Individualität (was auch immer man* darunter verstehen mag) durchbrochen werden, wenn auch nur für kurze Zeit.

Die Namen, die Unbenennbaren

Bei Paula Chaves Bonillas Performance House of Desaparecidxs stand auf einem Transparent „No nascimos para guerra“ (Wir sind nicht für den Krieg geboren). Aber der Krieg ist ein zentraler Bestandteil des Lebens der Unterdrückten und Ausgebeuteten. Geschichten über Folter, Okkupation, Kampf und Widerstand kommunistischer Guerillas in Kolumbien, indigener Völker, von Frauen, Schwarzen und queeren Menschen wurden erzählt und mit persönlichen Geschichten der Künstlerin verflochten. Chaves Bonilla trug eine schwarze Kapuzenmütze, auf die „ACAB“ (kurz für All Cops Are Bastards) gestickt war. Die Performerin zündete Kerzen an und zählte die Namen der Kämpfer*innen auf, die im Krieg gegen das Kapital ihr Leben verloren haben, aber stets anwesend sind. Die im Dunkeln leuchtende Bühne, das T-Shirt und der Kopfschmuck von Chaves Bonilla lösten einerseits Assoziationen zu einem Club oder Rave aus (zumindest für jeman*den, der*die, wie ich, in den 1990er-Jahren aufgewachsen ist), andererseits ließen sie ein magisches Ambiente entstehen, das sich aus der ritualartigen Darbietung von Trauer ergab. Das Stück ging über die Grenzen von Queerness oder die Grenzen, die um Queerness herum gewachsen sind, um die bewaffneten Kämpfer*innen, Arbeiter*innen, Bäuer*innen, Völker und Organisationen zu ehren, die sich einem völkermordenden System widersetzt haben, hinaus und plädierte für organisierten Antikapitalismus als eine Form des Aktivismus, der für die Emanzipation nicht nur queerer Menschen, sondern aller Unterdrückten unumgänglich ist. Wenn man* bedenkt, wie sich „queer“ im Kapitalismus zu einem bourgeoisen Identitätsentwurf entwickelt hat, war Chaves Bonillas Performance ein eindringliches Statement.

Da ich selbst ein*e südamerikanische*r Künstler*in bin, kam für mich durch das Thema Trauer eine weitere Perspektive hinzu – näher an der Haut, näher am Körper, näher an meinen Erinnerungen an die nicht enden wollenden Kämpfe in der Region. Vieles von dem, was ich in letzter Zeit in der Wiener queeren Kunstszene gesehen habe, ist der Versuch, einen Ort der Geborgenheit und des Feierns zu schaffen. Das ist natürlich verständlich, notwendig und wünschenswert, aber manchmal ist es zu sehr von der Realität des Kampfes entfernt, der an anderen Orten und in anderen Gemeinschaften und auch hier in Österreich stattfindet. Sich von der Realität zu distanzieren oder sie anders zu nennen bedeutet nicht, dass sie aus der Welt geschafft ist. Der Kampf von Frauen, indigenen Völkern, Arbeiter*innen, Bäuer*innen und aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminierten Völkern geht Hand in Hand mit dem queeren Kampf und sollte nicht in Vergessenheit geraten. Egal ob queer oder nicht, wir tragen diese „Namen“, die mehr als Paradigmen und etwas anderes als bloße Symbole sind.[1]

„What is a body without a name? An error.“

Dieses Zitat aus Legacy Russells Glitch Feminism-Manifest wurde während Markus Pires Matas erstem Soloprojekt an die Wand projiziert. Auch hier kam die Dialektik von Namen und Unbenennbarkeit ins Spiel, kombiniert mit Unlesbarkeit und Undurchsichtigkeit, und in dieser Gegensätzlichkeit lag die Aussicht darauf, die Beziehungen zwischen Sprache und Geschlecht in einem queeren Kontext umzuschreiben. Pires Mata präsentierte eine dichte, vielschichtige Performance, in der Sprache, Materialität, Klang, Rhythmus und virtuelle Realität aufeinandertrafen und dabei einen teilweise widersprüchlichen Diskurs und eine düstere Atmosphäre schufen. Widersprüchlichkeit zur Schärfung von ästhetischem und/oder politischem Bewusstsein einzusetzen ist ein wichtiges Werkzeug, um mit den klaustrophobischen Verhaltenscodes aufzuräumen, die in unserer Gesellschaft als gegeben angesehen werden. Pires Matas Form der Partizipation funktionierte, indem er*sie das Publikum auf stimmige Weise miteinbezog: Wir wurden aufgefordert, einen projizierten QR-Code mit unseren Handys zu scannen, einen Link zu einer Sounddatei zu öffnen und sie kollektiv mit dem Rhythmus zu synchronisieren, der live gespielt wurde und das verzerrte Dröhnen überlagerte, das von einem schmelzenden Wachsblock erzeugt wurde, der auf die Saiten einer Gitarre tropfte. So wie das schmelzende Wachs war auch alles andere instabil, alles schmolz, zerging und floss dahin in einer düstereren, härteren Version von „geleia geral“[2], dem Konzept des brasilianischen Dichters Décio Pignatari. Glitch, Glibber und Dröhnen.

Ich komme nicht umhin, mich zu fragen, wohin sich diese Performance hätte entwickeln können, wenn sie nicht durch die räumliche Beschaffenheit und den kurzen zeitlichen Rahmen eingeschränkt gewesen wäre. Eine Langzeitversion könnte den immersiven Aspekt des Stücks erhöhen, sowohl für den*die Künstler*in als auch für die Mitwirkenden-Zuschauer*innen.

Gender-Abstraktionen

Müssen wir, wie Cibelle Cavalli Bastos in ihrer*seiner Lecture-Workshop-Performance Debinarize vorschlägt, uns selbst als abstrakte geometrische Würfel vorstellen, um die Beschränkungen zu überwinden, die uns von geschlechtlichen, patriarchalischen Strukturen auferlegt wurden? Abstraktion kann ein wirksames kreatives Werkzeug sein, um jene Einschränkungen außer Kraft zu setzen, die nicht eigentlich vom Körper auferlegt, sondern dem Körper aufgezwungen werden, der Haut, den Bewegungen der Körper und ihren Beziehungen. Die idealistische Abstraktion reicht zwar nicht aus, um die Materialität des Körpers zu besänftigen und seine Bedürfnisse zu stillen, aber mit ihrer Hilfe kann die Vorstellungskraft verschiedene Formen des Seins und Handelns in der Welt entwickeln. Cavalli Bastos forderte uns auf, verschiedene Körperteile auf genderbinäre Weise zu bewegen (sogenannte maskuline Bewegungen, sogenannte feminine Bewegungen). Auf den ersten Blick schien diese Übung Geschlechterstereotype unnötigerweise zu verstärken, ganz im Widerspruch zu Cavalli Bastos’ Konzept der Entbinarisierung, aber als ich darüber nachdachte, wie eine sogenannte feminine oder eine sogenannte maskuline Bewegung meiner Füße aussehen könnte, fiel mir überhaupt nichts dazu ein. Alle meine Versuche wirkten klischeehaft, dumm und manieriert. Ich fühlte mich so unwohl, dass ich damit aufhörte und erkannte, dass diese Kategorien, die in unserer patriarchalischen, sexistischen Gesellschaft so natürlich scheinen, nichts als Schwindel sind. Ich kann nicht sagen, wie sich das auf mein Leben im Alltag auswirken wird, aber es hat definitiv mein Bewusstsein dafür erhöht, wie die Abstraktionen des Geschlechts unsere Körper regulieren und einschränken und Unterdrückung erzeugen.

Und wieder wurde die aktive Beteiligung des Publikums durch die Trennung von Bühne und Zuschauer*innenbereich behindert, was zuweilen ein betretenes Gefühl im Raum hervorrief.

Um auf die einleitende Frage zurückzukommen: „Kann eine Utopie – genauer gesagt: eine queere, horizontale Utopie – innerhalb institutioneller Beschränkungen verwirklicht und erlebbar gemacht werden?“ Zunächst halte ich Utopien nicht für die transformatorischsten (Nicht-)Orte für Aktivismus. Transformation erfordert programmatisches, organisiertes, materielles, kollektives Handeln in der Gegenwart. An bestimmten, realen Orten, aber ohne Fantasie. Vor allem aber sollte sie die institutionellen, systemerhaltenden Mauern niederreißen, wenn sie ihre Wirkung entfalten soll.

 

[1] Jacques Derrida beendete die Einleitung der französischen Ausgabe seines Buches Spectres de Marx (Marx’ Gespenster) mit folgendem Satz: „Das Leben eines Menschen, so einzig wie sein Tod, wird immer mehr als ein Paradigma sein und immer etwas anderes als ein Symbol. Und es ist dieses selbst, was ein Eigenname immer nennen sollte“ (Anm. d. Ü.: zitiert aus der deutschen Erstausgabe, Frankfurt a. M. 1995).
[2] Anm. d. Ü.: Die übliche englische Übersetzung von „geleia geral“ lautet „general jam“, wobei der sprachliche Bezug zu „geleia real“, Portugiesisch für „Gelée royale“, verloren geht.

 

Maurício Ianês (geb. in Santos, Brasilien, 1973) lebt und arbeitet in Wien. Ianês ist politische*r Aktivist*in, Forscher*in und Künstler*in und arbeitet mit verschiedenen Medien. Der Schwerpunkt seiner*ihrer Arbeit liegt auf partizipatorischen Aktionen, institutioneller Kritik, kontextuellen Praktiken und der politischen Dimension von Sprache. Ianês hat their/seine*ihre Arbeiten in internationalen Institutionen wie Pinacoteca do Estado de São Paulo (2019), Palais de Tokyo, Paris (2014), KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf (2013), PAC Milano (2018) sowie bei der 28.und der 29. Internationalen Biennale von São Paulo (2008 und 2010) präsentiert. Derzeit lehrt Ianês am Institut für Transmediale Kunst der Universität für angewandte Kunst Wien.

 

 
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