Choose your fighter
Wenn Alexandra Bachzetsis’ Praxis vom Aufbauen und anschließenden Verwerfen von Realität, Personae, Geschlecht, Formaten und Referenzen geprägt ist, dann schmeist sie in 2020: Obscene alle diese Kategorien in den Mixer und drückt die „Turbo“-Taste.
Bachzetsis nimmt uns mit auf einen 90-minütigen turbulenten Trip durch einen Kaninchenbau der anderen Art, wild entschlossen, die Konventionen des Obszönen zu unterwandern.
Die minimalistische Bühnenausstattung besteht aus einer roten Ecke, einer gelben Wand und zwei kurzen weißen Treppen, die als Sitzgelegenheiten dienen – als hätten Mondrian und de Chirico gemeinsam ein Bühnenbild entworfen.
Die Performer*innen selbst haben frappierende Ähnlichkeit mit archetypischen Porno-Tropen.
Auftritt: die MILF. Rote Lippen, rotes Trikot, rote Nägel, rote Louboutins. Weiche Bewegungen, geheimnisvoller Blick. Eine Metallabsperrung wird für sie zu einer Ballettstange, mit deren Hilfe sie Bewegungsabläufe wiederholt, die von rhythmischer Gymnastik ebenso inspiriert sind wie von Striptease.
Auftritt: der Cowboy. Frech schaut er unter seinem breitkrempigen Hut hervor. Die Reit-Überhosen geben den Blick frei auf seinen Hintern in Jeans – nicht unähnlich der aufreizenden schwarzen Strumpfhose ohne Schritt, die die MILF trägt.
Auftritt: die zierliche Brünette. Sie trägt ein Herrenhemd und sonst nichts und sieht aus, als wäre sie gerade bei ihrem derzeitigen Liebhaber aufgewacht. Sie lässt ihre Muskeln spielen, wobei ihre Bewegungen nahtlos in eine Kampfsport-Kombo übergehen, und schließlich schreitet sie über die Bühne, als wäre sie auf einem Laufsteg. Später wird sie zu einem Cam-Girl, das gekonnt das unschuldige Aussehen mit einem erotischen Blick kombiniert, während es mit der Kamera und den Zusehenden dahinter flirtet.
Auftritt: der Chippendale-Matrose. Lässig geschliffene Bewegungen weichen einer ungeschickten, unkoordinierten Aneinanderreihung körperlicher Betätigungen …
Und dann gibt es einen plötzlichen Glitch in der Matrix: Wir erhaschen einen Blick in Bachzetsis’ Metastruktur: Ein Darsteller lässt eine Schimpftirade über die Choreografin los, ihre nachlassende Bedeutung, ihre erbärmliche und doch allzu reale Angst vor dem Altern, und er kommentiert sogar die finanziell motivierten Entscheidungen, die sich letztendlich auf ihre künstlerische Vision auswirken.
Zurück zu den Tatsachen, oder war alles nur gespielt? Ein eitler Gigolo hüllt sich in eine Duftwolke, bevor er spontan eine melancholische Ballade anstimmt.
Aus Lachen wird Weinen. Sinnliche Striptease-Moves weichen dem traditionellen „griechischen“ Tanz. Unweit davon kämpfen die MILF und die zierliche Brünette erotisch-spielerisch miteinander. Sind sie ein Liebespaar? Freundinnen? Rivalinnen? Objekte?
Da taucht eine menschliche Discokugel auf und entzückt uns mit ihrem überirdischen Glitzern.
Bis das Licht ausgeht.
2020: Obscene ist genau in den Monaten entstanden, die rückblickend die letzten vor und die ersten nach dem Ausbruch der Pandemie waren. Während dieser Zeit schien die bloße Idee, einen anderen Körper zu berühren, an sich schon obszön genug, weshalb sich die Bedeutung und das Erleben des Obszönen im privaten und im öffentlichen Bereich radikal verändert und erweitert haben. Die Unmöglichkeit der Berührung hat unsere Online-Präsenz in einem beispiellosen Ausmaß erhöht und Tendenzen zu extremer Selbstdarstellung, Selbstkommodifizierung und Übersexualisierung katalysiert. Vor diesem Hintergrund fragt sich Bachzetsis, wie Subversion angesichts der Konvention funktionieren soll: Wie können bestimmte Formate abgelehnt werden, wenn sie gleichzeitig in Anspruch genommen werden? Wie können Bilder und letztendlich Emotionen erschaffen werden, während das Obszöne infrage gestellt wird?
Bachzetsis führt uns durch traumartige Tableaus (oder möglicherweise drogeninduzierte Halluzinationen?), während sie sich mit Scharfsinn und Raffinesse im Aufbauen und Verwerfen von Konventionen zu Kult (sei es Körperkult oder Jugendkult), Beziehungen (deren Drama und psychologischer Kriegsführung) und künstlerischen Formaten wie Ausstellungen, Theater oder Film übt. Dabei vergisst sie nicht auf den Spaß und das Vergnügen, diese durchzuspielen.
Bachzetsis schöpft aus einer gut gefüllten und vielfältigen Fundgrube an Popreferenzen, die von Hitsongs bis hin zu Filmdialogen reichen, behandelt das Bühnenbild, die Kostüme, Lieder, Texte, gesprochenes Wort und Tänze als Partituren und Körper als Instrumente, die diese ausführen und variieren. Ihre Figuren sind fluid – nicht nur was ihre Gender-Performance und ihre Sexualität betrifft, sondern auch hinsichtlich der Wandlungsfähigkeit ihrer Bewegungen, der Interpretation von Liedern und der Vortragsweise von Texten. Ein Monolog, der zuerst von einer wütenden Frau gesprochen wurde, wird in unserer Wahrnehmung völlig verzerrt, wenn er von einem Mann wiedergegeben wird. Die Konstruktionen von „Mann“ und „Frau“ sind übertrieben, beinah so extrem, dass sie zu Karikaturen werden, wodurch unsere eigenen, schwer abzulegenden Vorurteile umso prompter aufgedeckt werden. Besonders für diejenigen von uns, die mit einer klaren Beziehung zwischen Referenz und Signifikant aufgewachsen sind, was z. B. bedeutete, dass der Musikgeschmack klar definierte, welches Gewand man* zu tragen hatte. Die persiflierten Personae und die bewusste Verwirrung, die sie erzeugen, sind leicht wiederzuerkennen in einer Zeit, in der – wohl oder übel – anscheinend alles erlaubt ist.
Laura Amann, geboren 1986, ist eine chilenisch-österreichische Kuratorin und Architektin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Die Absolventin des De Appel’s Curatorial Programme Amsterdam sowie der Akademie der bildenden Künste Wien ist derzeit, neben dem Kollektiv WHW, Mitglied des Kurator*innenteams der Kunsthalle Wien. Amann hat Significant Other kuratiert – einen Projektraum und eine kuratorische Plattform, die sich mit den Überschneidungen von Kunst und Architektur befasst. In aktuellen Projekten untersucht sie Wahnsinn und Geisteskrankheiten als Formen des Wissens sowie Akte der Freude, der Intimität, des Begehrens und der Sinnlichkeit und wie diese Räume für Ungehorsam eröffnen.