TQW Magazin
Mayra Jenzer Azevedo und Irene Landa über Rakete Part 2: Nana Dahlin, Catol Teixeira und Lara Dâmaso

Clap Eyes on Me

 

Clap Eyes on Me

Mayra: Als wir über den vierten Abend des Festivals Rakete am Tanzquartier Wien nachdachten, kamen wir schnell überein, dass ein übergreifendes Thema der Blick war. Was zuerst einmal nicht offensichtlich erscheinen mochte: Als ich die Räume der TQW Studios zur ersten Aufführung des Abends – Nana Dahlins Lalangue (extd.) – betrat, fiel mir zuerst die Dunkelheit auf. Ich konnte nicht einmal erkennen, wer die Performerin war. Durch die plötzliche, sehr starke Präsenz ihrer Stimme schien sie aus dem Nichts aufzutauchen. So kam für mich der Klang, die Sinneswahrnehmung des Hörens, vor dem Blick. Beinahe den Blick überlistend, könnte man sagen. Wir sind so ans Schauen gewöhnt, vor allem was unsere Beziehung zur Kunst betrifft. Genau aus diesem Grund schien uns der Blick, wie er herausgefordert, unterlaufen und zurückgewiesen wurde, das den Abend umspannende Thema zu sein.

Irene: Ja, es war interessant, wie ihr Blick nie die unseren traf. Ich hatte einen Eindruck eines Versteckspiels, etwas, das irgendwo zwischen Voyeurismus und Peinlichkeit angelegt ist. Da der Gesichtsausdruck von Dahlin verborgen blieb, wurde ihre Präsenz auf gewisse Weise entmenschlicht, was ihr ermöglichte, mit dem Raum eins und zu einer weiteren Klangquelle zu werden, während sie dem Publikum das Privileg des menschlichen Blicks verweigerte. Und so nahmen, wie du sagtest, die Stimme oder die vielen Stimmen die Bühnenmitte ein mit etwas, das wie ein unmögliches Duett oder ein verzweifeltes Ringen zwischen dem Körper und der Mikrophon-Maschine erschien, zwischen der Stimme und ihrer Reflexion, die von der Maschine wiedergegeben wird.

In der zweiten Performance, La peau entre les doigts, verwendete Catol Teixeira eine andere Strategie, eine, die den Blick des Publikums nicht zurückwies. Im Gegenteil, dey schien es zu genießen, mit einem sinnlichen und spielerischen Gestus direkten Augenkontakt mit dem Publikum aufzubauen – ein unangenehmes Gefühl für uns, das die Grenzen zwischen Performer*in und Publikum, verwischte.

M: Ja! Als wir den Raum betraten, konfrontierte Teixeira unseren Blick mit deren, warf ihn auf uns zurück. Der Raum war während des ersten Teils der Performance hell erleuchtet. Ich fühlte mich dadurch sehr ausgesetzt, und dann begann Teixeira unsere Blicke und Haltungen zu spiegeln und damit auch die Art und Weise, wie wir uns zum Raum und zur Umgebung, in der wir uns fanden, verhielten – ob wir uns unwohl fühlten, angespannt, entspannt oder aufgeregt. Dieses Einbeziehen des Publikums wurde unterbrochen, als es dunkel wurde und Teixeiras Bewegungen eine sehr mechanische Beschaffenheit annahmen. Sie waren nicht nur in technischer und ästhetischer Hinsicht überaus eindrucksvoll, sondern führten die Beobachter*innen auch in eine klare Publikumsrolle zurück. Die jedoch aufs Neue infrage gestellt wurde, als Teixeira begann, sich durch die engen Durchgänge zwischen unseren auf dem Boden sitzenden Körpern zu bewegen. Plötzlich wurde deren schweres Atmen und angestrengter Körper wieder sehr präsent. Diese unterschiedlichen Modi waren wirklich eine Herausforderung und eine Verdeutlichung unserer Blickgewohnheiten.

I: Wenn ich dir so zuhöre, denke ich, dass Teixeiras Performance irgendwie mit dem, was McKenzie Wark, die mit einer Online-Lecture am Freitagabend ebenfalls zu diesem zweiten Teil des Festivals Rakete beitrug, über den Cis-Blick (engl.: „cis gaze“) sagt. Wark beschreibt den Cis-Blick als eine Struktur des Schauens, die darauf beharrt, den nicht normativen, queeren Körper aus der Perspektive des Regimes der Sex-Gender-Unterschiede zu klassifizieren und zu formen. So, wie du es erzählst, scheint es, dass Catol Teixeira den (Cis-)Blick, von dem Wark spricht, mit deren eigenem, queerem Körper konfrontiert, der ins Rampenlicht gestellt wird, unerschrocken gesehen werden will und sich gleichzeitig nicht scheut, zurückzuschauen. Als die Neonlichter den Raum durchdrangen, fühlte es sich an, als wären wir in einen Club versetzt worden, wo, wie McKenzie Wark es formuliert, „der queere Körper einen Weg findet, sich zu dissoziieren und zu dekonstruieren“. Teixeiras konstante, mechanische Bewegungen schienen diesen Prozess beschleunigen zu wollen; in der Intensität des Neonlichts verschwimmend hörte der Körper auf, Fleisch zu sein, und wurde zur Maschine, um dann wieder im weißlichen Licht der Spots zu erscheinen als verletzlicher, aber gleichzeitig konfrontativer Körper, der keine Angst davor hat, die Norm anzuschauen und infrage zu stellen. – Ich erkannte diese Absicht, das Spiel zwischen dem Zeigen von Verletzlichkeit und dem Beibehalten einer konfrontativen Haltung, auch in Lara Dâmasos Performance her harsh, high and deep voice: a polyphony.

M: Was Teixeiras Performance mit den anderen beiden verband, war der Gebrauch von Körper, Bewegung und Klang, um den Raum zu formen. Die Architektur als Teil des Raums zu umreißen, aber auch uns, das Publikum, und unsere Körper. In Dahlins Performance wechselte der Körper seine Position und markierte verschiedene Punkte im Raum. Er wurde immer von einem Spot verfolgt, blieb dabei jedoch ständig vom Publikum abgewandt. Dahlins Polyphonie, erzeugt von einer Stimme in einem dunklen Raum, wurde zu einer Erweiterung des Körpers der Performerin, die wir als Zuschauer*innen nicht wirklich erfassen konnten. Die Klänge schienen unsichtbare Finger hervorzubringen, die sich in die Ecken des dunklen Raums erstreckten und um unsere Ohren strichen, manchmal schroff, manchmal unsicher, tastend und scheu. Manchmal schöne Harmonie erzeugend, dann wieder Dissonanzen, die es nicht erlaubten, dass wir es uns zu gemütlich machten.

I: Das Unwohlsein, das du erwähnst, schien Dâmaso auch mit der Polyphonie einer einzelnen Stimme zu verfolgen. Ihre Stimme durchmaß verschiedene Klangspektren von radikaler Weichheit zu kratzender Rauheit. Dâmaso zeigte uns die Vielfalt der Stimmen, Tonalitäten und Nuancen, die einem Körper innewohnen, in einem subversiven Akt, der die der weiblichen Stimme zugeschriebenen Stereotype zu dekonstruieren und somit die Gendergrenzen in der Stimme zu erweitern suchte. Dâmasos vielfältige Stimmen erfüllten den Raum von Otto Wagners Postsparkassen-Gebäude wie ein Ornament, das sich in die atemberaubende Architektur einfügte und durch die Transparenz der kuppelartigen Decke und des leichten Bodens gefiltert wurde. Der Raum wurde ohne Zweifel zu einem Protagonisten in dieser Performance, ohne jedoch jemals Dâmaso zu überschatten, der es gelang, einen flüssigen Austausch Körper/Stimme/Raum zu etablieren. Die Aufführung begann damit, dass sie aus der hölzernen Kabine am Fluchtpunkt der unidirektionalen Perspektive erschien, die von den Metallsäulen noch verstärkt wird. Dann ging sie durch den Saal, den Raum mit ihrer Stimme und dissonanten Frequenzen erfüllend … Ich hatte den Eindruck, als wäre eine geisterhafte Präsenz in die Galerien der Jugendstilarchitektur eingezogen, lange bevor wir eintrafen!

M: Ich war wirklich fasziniert davon, wie Dâmasos ätherische Erscheinung zur Architektur passte. Die Säulen im Raum schienen in die Glasdecke zu tauchen wie in ein Dach aus Wasser. Wasser war auch eine starke und wichtige Assoziation, mit der ich während Dâmasos Aufführung konfrontiert war. Mit ihrem langen weißen Kleid und dem glatten Haar sah sie aus wie eine Art Nymphe. Mir gefällt auch, was du über die Dekonstruktion des Geschlechts in der Stimme gesagt hast. Vor allem die Klagelaute, die sie hervorbrachte, erinnerten mich an verschiedene mythische Wesen aus unterschiedlichen Kulturen, die ein Konzept gefährlicher „Femininität“ repräsentieren. Z. B. La Llorona in der lateinamerikanischen Folklore, die auch in der Nähe von Gewässern anzutreffen ist, oder die irische Banshee. Mir schien es, als wollte sie auf eine Angst vor dem verweisen, was in der Gesellschaft als „feminine“ Stimme erachtet wird, wenn diese bestimmte, sehr spezifische Normen überschreitet. Diese Überschreitung spiegelte sich für mich auch in der Architektur, in den teilweise transparenten Elementen, die die Fähigkeit der menschlichen Stimme zu reflektieren schienen, körperliche Grenzen zu durchdringen. Eine Fähigkeit, die dem Körper, wie wir ihn definieren, mangelt. So wurde die Stimme zu einer Art Erweiterung dessen, was üblicherweise als Körperfunktionen und sensorische Fähigkeiten gesehen wird. Das schuf eine faszinierende Erforschung der Wechselbeziehung zwischen Raum, Klang und Körper. Was wiederum alle Performances gemeinsam hatten, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise erkundet wurde.

Die drei Performances, die im zweiten Teil des Festivals Rakete gezeigt wurden, waren Erforschungen von Raum, Klang, Körper und Blick. Sie zeigten Praxen, andere mögliche Wege zu erzählen, wie wir Raum als vielschichtige, instabile Identitäten bewohnen können, durch die Erschaffung von Polyphonien unser selbst, durch Schauen und Gesehenwerden über die Normativität des aufgezwungenen Blicks hinaus.

 

Mayra Jenzer Azevedo (*1997) ist Schriftsteller*in, Performer*in, Kunsthistoriker*in und Kulturmediator*in aus Basel, wo dey als BA in Kunstgeschichte und Deutscher Philologie abschloss. Dey arbeiteten am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft, am Stapferhaus, und als freischaffende*r Schriftsteller*in für Out & About Basel, frachtwerk.ch sowie mehrere andere Zeitschriften und Online-Magazine. Derzeit nimmt dey am MA-Programm Critical Studies der Akademie der bildenden Künste Wien teil, wo dey sich darauf konzentriert, ihre akademische Forschung mit künstlerischen Praktiken zu ergänzen. Im Zentrum deren Arbeit steht ein entschieden queerer und dekolonialer Zugang zur Ästhetik und ihren Wechselbeziehungen mit sozialer und kultureller Analyse.

Irene Landa (Bilbao, 1995) ist eine in Wien lebende, multidisziplinäre Kulturarbeiterin und Architektin. Derzeit nimmt sie am Master in Critical Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien teil. Ihre Praxis siedelt sie an der Schnittstelle zwischen kritischer Theorie, kultureller Kuratierung und Musik an. Sie hat an der Erschaffung und Kuratierung vielfältiger Kollectiveer Kulturereignisse und Ausstellungen in Institutions wie auch in unabhängigen Räumen mitgewirkt.

 

Die Texte zum Rakete-Festival 2023 wurden von Studierenden des MA Critical Studies in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste Wien (Moira Hille) verfasst.

 

 
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