TQW Magazin
Lau Lukkarila über hi baubo von Hannah de Meyer

Come here, you are exquisite

 

Come here, you are exquisite

Wir betreten einen Raum, dessen Wände mit schwarzen Vorhängen bedeckt sind, die jegliches möglicherweise entstehende organische Echo schlucken. Das Publikum ist auf zehn Podien verteilt, die lose im Halbkreis angeordnet sind. Hannah De Meyer trägt ein schwarzes Baumwollhemd mit langen Ärmeln, eine hoch taillierte blaue Jean und weiße Turnschuhe mit einem blauen Streifen auf der Innen- und Außenseite der Füße. Ein zartes, aber dennoch strahlend rotes Licht färbt ihren Hals zu einer pulsierenden, essbaren Substanz. Jetzt haben die Wangen der Zuschauer*innen die gleiche Farbe. Mein Blick trifft Hannahs und ich bekomme ein Augenzwinkern von ihr; auch sie erinnert sich daran, dass wir vor sechs Monaten genau diesen Raum geteilt haben, um unsere Stücke zu zeigen.

Hannah trägt einen gestellartigen Skulpturenrucksack mit einer gebogenen Metallröhre, auf der ein Foto befestigt ist. Mir fällt auf, dass es sich bei dem Bild um eine Familie gelblicher Pilze handelt, die wie dünne, lange Finger aussehen. Die Skulptur schwebt hinter Hannah her wie ein sensorischer Tentakel. Hinter mir auf dem Boden liegt eine Unmenge an technischen Geräten mit Hunderten von Knöpfen – Effekte und Pedale für die rot-weiß schimmernde Fender Telecaster, die auf dem Boden liegt. An der Wand rechts von mir ist ein projiziertes Standbild einer beeindruckenden Ameise zu sehen. In der linken Ecke der Projektion steht BBC, British Broadcasting Corporation, woraufhin ich kurz an den Brexit denken muss. Ich schaue noch einmal die Ameise an, die offensichtlich mit etwas anderem beschäftigt ist als „europäisch sein oder nicht europäisch sein“. Der Maßstab der Projektion ist vergrößert, makroskopisch. Es scheint mir, dass Hannah nichtmenschliche Erdbewohner*innen sehr genau und mit viel Einfühlungsvermögen beobachtet und deren Empfindungen nicht annimmt, sondern sich in sich selbst vorstellt. Ein sanftes, instinktives Drücken des Bodens beginnt, ähnlich einer Katze, die einen Polster knetet. Neugeborene Katzen kneten den Bauch ihrer Mutterkatze, um den Milchfluss aus den Brustwarzen anzuregen. Katzen haben auch weiche Duftdrüsen auf der Unterseite ihrer Pfoten, die ein Öl absondern, mit dem sie ihr Revier markieren – ein Akt der Raumbeanspruchung. Eine Katze, die jemandes Schoß knetet, fühlt sich nicht nur wohl, sondern stellt möglicherweise auch Besitzansprüche an diese Person. Ich stelle mir weiche Duftdrüsen auf der Unterseite von Hannahs Pfoten vor, die sie auf der Oberfläche der schwarzen Tanzfläche reibt.

Abgesehen von dem verstärkten Sauggeräusch aus Hannahs Mund ist kein anderes Geräusch im Raum zu hören. Dennoch scheint mir ihr Brustkorb mit seiner Auf- und Abbewegung „In a Sentimental Mood“ von John Coltrane zu summen. „Have you seen them? Has the moon risen and have the stars come to join us?“, fragt Hannah, während sie in etwas wühlt, das Moos oder Sand unter ihren Pfoten zu sein scheint. Die Kreatur, die früher Hannah De Meyer war, schwebt jetzt, ohne sich je völlig der Schwerkraft zu ergeben. „The moon doesn’t come here anymore, the stars are gone. The stars are memories of the stars.“ Ihre Eingeweide erzeugen ein Gebrabbel und Geplapper, nasse Geräusche und knurrendes Gemurmel. „Jakobin, make some music! Make us move, make us warm, make us sweat a little, make us drip, until our skin cracks open. Make us move until our limbs tumble down!“ Ein Beat beginnt. Ein falschgeratener, harfenartiger Klang entweicht der E-Gitarre und gesellt sich zum Beat. „By the fifth beat our organs will fall from our bodies. Kidneys, liver, heart, lungs, the brain; the brain is an organ too.“ Ich stelle mir weiche Organbeutel vor, die zuckend auf dem Boden liegen. Ich stelle mir den Körper der Performerin als einen organlosen Körper vor, während ich versuche, mir ins Gedächtnis zu rufen, was Gilles Deleuze in Anti-Ödipus (1972) darunter verstanden hat. Zu Hause nehme ich das Buch aus dem Regal und lese: „Den Organmaschinen setzt der organlose Körper seine glatte, straffe und opake Oberfläche entgegen, den verbundenen, vereinigten und wieder abgeschnittenen Strömen sein undifferenziertes amorphes Fließen. Den phonetisch aufgebauten Worten setzt er Seufzer und Schreie entgegen, ungegliederte Blöcke entgegen.“[1] Wenn ich so über diesen kategorischen philosophischen Unsinn[2] nachdenke, interpretiere ich Hannahs künstlerischen Entwurf als kritisch posthumanistisch und ökofeministisch, als Aufruf zu einem stöhnenden, triefenden anti-anthropozentrischen Aufstand.

Die E-Gitarre stimmt ein charmantes Schlaflied an, die BBC-Ameise erwacht zum Leben und entrollt eine Pilzfadenantenne aus ihrem Nacken. „Mushroom woods, plant talk, voices of hurricanes, tongues of rain, language of the deserts and speaking stones.“ Auf der Leinwand wachsen gelbliche Pilze nebeneinander auf Holzstücken und Baumstümpfen. „From our decomposting organs, ghosts rise. Come here, we have been waiting for you. You are exquisite!“ Ich stelle mir den Zerfall meines Körpers in der Erde vor und es fühlt sich wie eine sinnliche Erfahrung an. Composting is so hot![3] Zu Hause wähle ich eine Hymne für die Baubo von heute; eine weit geöffnete Fotze mit grimmigem Blick, die auf einer elektronischen Harfe spielt: Faunas „Lonely at the Top“ vom Album „Infernum“ (2018).

 

Lau Lukkarila ist Choreograph*in und Performer*in und lebt in Wien. Lau studierte Theater, Schauspielkunst, zeitgenössischen Tanz, Stimme und Performance an der Metropolia Universität der Angewandten Künste (Finnland) und an der Königlichen Akademie der Darstellenden Künste (Spanien). In 2018 erhielt Lau das Startstipendium für Musik und darstellende Kunst des Bundeskanzleramts und das danceWEB Stipendium beim ImPulsTanz Festival. Im 2019 zeigt Lau das Solo Trouble beim Rakete Festival im Tanzquartier Wien. Lau interessiert sich für Pathos und die Gegenwart eines „emotionalen Körpers“ im Akt des Tanzens und Performens. www.laulukkarila.com

 

[1] Deleuze, Gilles; Guattari, Félix. Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Suhrkamp (1974): 9 (im Original erschienen unter dem Titel L’Anti-Œdipe. Capitalisme et Schizophrénie. Minuit, 1972).
[2] Swarbrick, Steven. Materialism without Matter: Deleuze. CUNY Academic Works, 2017. (criticalposthumanism.net)
[3] Haraway, Donna. Staying with the Trouble: Making Kin in the Chthulucene. Duke University Press (2016): 32

 
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