TQW Magazin
Maja Zimmermann im Gespräch mit Ligia Lewis über Still Not Still

Aus der Rolle fallen, Tücke und das ungleiche Verhältnis zu Leben und Tod

 

Aus der Rolle fallen, Tücke und das ungleiche Verhältnis zu Leben und Tod

Die Erstaufführung von Ligia Lewis’ choreografischer Komposition für sieben Performer*innen Still Not Still musste aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie verschoben werden. Maja Zimmermann sprach mit ihr über die Hintergründe dieses Projektes.

 

Maja Zimmermann: In Still Not Still wird das Publikum mit einer Choreografie konfrontiert, in der sieben Performer*innen ihren eigenen Tod sowie ein gewisses Maß an körperlicher Grausamkeit sich selbst und den anderen gegenüber darstellen, und das mit erheblicher Gleichgültigkeit. Die Choreografie entwickelt sich in einer Dauerschleife, die diese Grausamkeiten absurd und komisch werden lässt.

Während der Entstehung des Stücks haben wir über die Vorstellung im Denken der westlichen Moderne gesprochen, Geschichte als linearen Fortschritt zu begreifen. Und dass diese Version von Geschichte auf systemischer Gewalt und der Unterjochung von Schwarzen, Indigenen und People of Color basiert.

Ligia Lewis: Das Stück ist aus einer Hinterfragung entstanden oder vielleicht aus einer Kritik der historischen Vernunft, die sowohl meine Subjektivität als auch die anderer Schwarzer und Brauner Menschen für irrelevant erklärt. Eine Historizität, die immer als gefährliches Verhältnis zum Anderen bzw. als Kannibalisierung des Anderen funktioniert. Wie erlangt man* als Subjekt Bedeutung, wenn die eigene Subjektivität – man* selbst – mehr oder weniger augenblicklich ausradiert wird? Anstatt sich selbst in die Geschichtsbücher, in die Geschichte einzuschreiben, schlage ich vor, eine umgekehrte Taktik anzuwenden und zu versuchen, der Geschichte als solche entgegenzuwirken; diesem Verhältnis zu Zeit, zum linearen Fortschritt etwas entgegenzuhalten.

Inspiriert dazu hat mich Tina Campts Buch „Listening to Images“ und die darin vertretene These von der Stasis bzw. dem Zuhören der subtilen Schwingungen eines unbewegten Bildes. Ich arbeite im Theater und mit Tanz, Choreografie, Bewegung, Sprache und Verkörperung – alles Prozesse, die einem zeitlichen Verlauf folgen. Im Grunde schreibst du Zeit, wenn du eine Choreografie schreibst. Wie kann ich diesen Zustand der Stasis erreichen, der nicht einfach nur buchstäblich mit Stillstand gleichzusetzen ist? Wie kann ich mit einem Verhältnis zu Zeit spielen, das uns vor Augen führt, dass wir uns nicht von der Stelle bewegt haben? So bin ich auf die Idee mit der Dauerschleife gekommen.

Die zyklischen Darstellungen des Sterbens auf der Bühne entstehen aus einem intensiven politischen Moment, in dem wir eine Art Nähe bestimmter Körper, im Vergleich zu anderen, zum Tod sehen. Das Stück liefert keine politische Antwort. Es ist eher ein ästhetischer Entwurf, der das gegenwärtige Problem zur Sprache bringt. Dieses ungleiche Verhältnis zum Tod ist ein wiederkehrendes Phänomen, es ist alt und abgenutzt. Die ungleiche Machtverteilung ist immer noch ein Problem, wie überhaupt jede Art von Verhältnis zur Macht an sich. Ist eine Welt vorstellbar, die sich dem festen Griff der Macht entziehen kann, insbesondere der von Europa über Jahrhunderte an offenkundiger und unterschwelliger Gewalt definierten Macht? In diesem Stück haftet der Macht etwas Unbeständiges an. Die Menschen tun einander in einem fort Gewalt an, und umgekehrt wird auch ihnen völlig grundlos und mit vollkommener Gleichgültigkeit Gewalt angetan.

Die Gleichgültigkeit der Performer*innen ihrem eigenen Körper und ihrem Schmerz gegenüber verstärkt den Eindruck der Grausamkeit für das Publikum.

Sie alle zeigen den Zuschauer*innen ihren Schmerz sehr deutlich. Das Stück ist darauf ausgelegt, angeschaut zu werden, es denkt immer auch Zeug*innen, Zuschauer*innen, das Publikum mit: „Schau dir an, wie weh das tut, aber es ist dir egal.“ Es ist so, als würden wir diese Gleichgültigkeit und diese Brutalität der Gleichgültigkeit ans Publikum zurückspielen, bis zu dem Punkt, an dem es komisch und manchmal schmerzhaft anzuschauen ist.

Wie in deinen übrigen Arbeiten beschäftigst du dich auch in Still Not Still mit dem weißen Publikum und seinem Blick.

Ja, der weiße Blick („white gaze“) ist entsetzlich und offenbar allgegenwärtig. Und so gerne ich von ihm Abstand gewinnen, ihn überhaupt am liebsten ignorieren würde, verfolgt er mich trotzdem immer noch. Es wird ja manchmal behauptet, dass er nur eine Fiktion ist. Dazu kann ich nur sagen: Ja, aber er ist eine Fiktion, durch die vieles real geworden ist. Diese Fiktion zwingt bestimmten Körpern, der Körperlichkeit als solcher, so viele Regeln auf und führt dazu, dass manche für „mehr“ und andere für „weniger“ als Menschen erachtet werden. Es ist eine schöne Geste, zu versuchen, eine Alternative dazu zu finden. Aber ich habe die Gewalt choreografiert mit der Absicht, sie in gewisser Weise auszureizen bis zu dem Punkt, an dem ich ihre Grausamkeit, ihre Absurdität, oft mit und durch Ironie, entlarven kann. Den Trümmerhaufen zu zeigen, der das moderne Leben für manche von uns ist, und was uns alles dadurch verwehrt wird, ist eine Möglichkeit, diesem Horror, diesem Grauen etwas entgegenzusetzen. Dramaturgisch wird diese zyklische Gewalt durch die Überbeanspruchung der Wiederholung in der Dauerschleife, obwohl sie lustig und grotesk ist, bis zu dem Punkt getrieben, der Unbehagen, aber gleichzeitig hoffentlich auch ein Gefühl oder ein Verlangen nach etwas anderem hervorruft. Die Zukunft würde erfordern, alles, was wir gelernt haben, neu zu überdenken.

Es wird ja auch immer wieder von Schwarzen Künstler*innen erwartet, dass sie Lösungen oder Alternativen anbieten. Dir geht es aber mehr darum, das Publikum zu zwingen, die eigenen Ansichten zu hinterfragen, nicht wahr?

Absolut. In gewisser Weise verschärfe ich das Problem noch. Es geht ja um weitaus mehr als nur ein einfaches Plädoyer für Repräsentanz oder Verständnis – um mehr als tief empfundene Empathie. Es geht darum, dass die gebräuchliche Definition dessen, was ein Subjekt wirklich ausmacht, mit der Definition, was einen Menschen wirklich ausmacht, gleichgesetzt wird. Menschen sind angsteinflößend. Dieses ungleiche Verhältnis nicht nur zum Tod, sondern auch zum Leben, und die Tatsache, dass diese beiden Daseinsformen zwangsläufig, historisch und für manche Menschen sehr konkret miteinander verflochten sind. Vor Kurzem ist mir ein großes Problem bewusst geworden, und zwar dass insbesondere Weiße bzw. aus Europa stammende Menschen das Andere erst kennen müssen, um es für lebenswert zu erachten. Das ist für mich eine äußerst brutale Geisteshaltung. Deshalb geht es eben nicht um Empathie.

Du hast den Unterschied im Verhältnis zum Tod zwischen Schwarzen und Weißen erwähnt. Eine der Inspirationen für deine Arbeit war der Essay „Corpsing; or The Matter of Black Life“, in dem David Marriott über „corpsing“ schreibt, also wenn ein*e Darsteller*in im Theater aus der Rolle fällt. Das überträgt Marriott auf den sozialen Bereich. Er meint, dass Schwarze symbolisch als tot betrachtet werden, weshalb in ihrem Fall „corpsing“ bedeutet, Anspruch auf ihr Leben zu erheben …

… oder auf eine Art von Leben, das für Weiße nicht von Bedeutung ist. Die moderne Welt stellt immer noch ununterbrochen den Tod von Schwarzen dar und zehrt weiterhin davon. Es ist wirklich nicht überraschend, dass die Bilder von George Floyd und all den anderen Schwarzen Menschen, die unter staatlicher Gewalt gelitten haben oder durch staatliche Gewalt ermordet wurden, so sehr im Umlauf sind. Den eigenen Tod zu „corpsen“ bedeutet, aus der Rolle zu fallen und nicht das zu tun, wovon das Publikum zehrt. Nicht ums Leben zu betteln, sondern zu sagen: „Schaut her, ich bin ein Mensch in eurem beschissenen System.“ Etwas anderes zu tun, das bisher weder einen Namen noch eine klare Strategie hat.

Über Jahrhunderte hinweg wurden wir als nichtmenschlich betrachtet. Warum sind die Leute denn so überzeugt davon, dass wir nach ihrer Definition des Begriffs „menschlich“ sein wollen? Das ist so übel. Denn wenn du nicht als Mensch giltst, bedeutet das, dass du anfälliger für Übergriffe bist.

Ein weiteres wiederkehrendes Thema im Stück ist das Leiden. Es geht nicht nur darum, dass die Performer*innen alle leiden, sondern wessen Leiden verdient die Aufmerksamkeit des Publikums mehr? Ein Aspekt dieser Brutalität der Gleichgültigkeit ist auch die Verzweiflung, die dadurch entsteht, dass man* angeschaut, beobachtet und dazu gebracht wird, sich selbst auf eine absurde Vorstellung dessen zu reduzieren, was von Bedeutung ist, welches Leiden mehr wert ist. Die Performer*innen performen also auch die Groteske, ihren Schmerz und ihr Leiden zu performen, nach dem Motto: „Nein, aber ich, ich bin schwerer verletzt.“ Ein wichtiger Punkt bei diesem Stück – der ja eine Art Danse macabre ist – ist, trotz allem nicht verschiedene Formen von Leiden gleichzusetzen oder so zu tun, als wären wir alle gleich. Dadurch wird das Bilden von Koalitionen nicht aus der Welt geschafft.

Diese Ausdrucksformen des Leidens bringen mich zum musikalischen Ausgangsmaterial, das du für die Erarbeitung des Soundscores verwendet hast: Guillaume de Machauts „Complainte“ aus dem 14. Jahrhundert.

Ja, ich war wie besessen von diesem Lamento, diesem breit angelegten Klagelied von Machaut, über das ich gestolpert bin. Es geht um eine unglückliche Liebe, es ist aber auch eine Wehklage über das widrige Schicksal. Ich habe diese Wehklage in eine verwandelt, die die Zustände von Tücke und Rassismus in all ihren Formen widerspiegelt, einschließlich der bösartigsten, unsichtbaren Formen, die vom Liberalismus aufrechterhalten werden. Für mich war es wie ein Liebesbrief an alle, die aufgrund dieser Zustände leiden. In dieser Welt zu leben fühlt sich für viele Menschen wie ein Schicksalsschlag an. Das gesamte Stück baut auf diesem Lamento auf.

Ein zentraler Aspekt der Performance ist, dass sich die Dinge wiederholen, das Lamento wiederholt sich, die Handlungen erfolgen in einer Dauerschleife. Entsprechend sind in meiner Zusammenarbeit mit S. McKenna, der die Musik auf verschiedene „gecorpste“ Varianten des ursprünglichen Klagelieds aufgebaut hat, verzerrte Variationen entstanden. Seine Musik verstärkt die düstere Stimmung, dieses „Corpsen“ der Realität. Du denkst, du hast etwas überwunden und bist weitergekommen, und dann sind wir wieder da, wo wir angefangen haben, allerdings auf groteske Weise übertrieben. Dieser Kreislauf ist wirklich übel.

Die Szenografie erinnert an Americana, die Welt der Cowboys, die im Stück eine ziemlich große Rolle spielt.

Ich habe begonnen, mich für diese Art von Gitarrenmusik zu interessieren und für diese Idee der Expansion in den Westen und des amerikanischen Cowboys als verwässertes, ver-weiß-tes Abbild davon. Dieses verwässerte Bild erzeugt auch das Narrativ, dass die Welt mir gehört, ich kann losgehen und sie mir nehmen, ich habe das Recht, sie für mich zu beanspruchen. In den Vereinigten Staaten wurde das als „Manifest Destiny“ bezeichnet, diese großartige Idee, Richtung Westen zu ziehen. Und natürlich gibt es offensichtliche Parallelen zur europäischen Expansionspolitik und zur Gewalt, die im Zuge des Kolonialismus ausgeübt wurde und wird.

Ursprünglich hatte ich die Idee, die Bühne sehr dunkel zu halten – sodass nur einzelne Figuren zu sehen sind und die Gewalt nur in fragmentarischen Bildern einfangen wird. Inspiriert wurde ich dazu von mittelalterlicher Malerei. Dann habe ich mir das Gemälde „Der Triumph des Todes“ von Pieter Bruegel d. Ä. genauer angeschaut, und das Erstaunliche daran ist, dass es so bunt und lustig ist. Und so düster. Spaß und Horror vermischen sich darin. Somit war klar, dass das Bühnenbild von Claudia Besuch farbenfroh sein musste, fast wie ein Spielplatz, aber auf diesem Spielplatz tun sich die Leute gegenseitig diese schrecklichen Dinge an. Gelb hat als Farbe etwas Naives, es ist hoffnungsvoll und fühlt sich kindlich an. Ich wollte, dass auch das Bühnenbild übertrieben ist, um die schonungslose Brutalität des Stücks zu verstärken. Auch die Schallresonanz der Holztafeln, insbesondere wenn sie von einem Körper bewegt oder getroffen werden, intensiviert die Stimmung der Performance.

Das Stück wird mit der fortschreitenden Wiederholung der Dauerschleifen immer komischer. Du hast auch mit der besonderen Performativität von „Deadpan“ (unbewegliche Miene) gearbeitet.

Ja, ich habe mich an ein Video namens „Deadpan“ von Steve McQueen erinnert, in dem er still dasteht, während ein Haus um ihn herum einstürzt. Dabei handelt es sich um eine Anspielung auf Buster Keatons „Steamboat Bill“. In McQueens Version bleibt er stehen, er läuft nicht davon, aber das Haus stürzt in einer Dauerschleife wieder und wieder ein. Und ich hatte das Gefühl, dass das eine sehr anschauliche Versinnbildlichung der Stimmungslage vom Leben als Schwarze*r in dieser Welt ist, in der man* sich ständig der unmittelbaren Nähe einer Tragödie bewusst ist, dass sie möglicherweise ums Eck schon auf eine*n lauert. Daher wollte ich in diesem Stück die Tragödie thematisieren. Es hat aber auch etwas sehr Slapstickhaftes, weil das ein Weg ist, um sowohl die Gewalt als auch die Tragödie in den Vordergrund zu stellen, aber eben mithilfe der Komödie, durch Lachen und abgründigen Humor.

Ich muss gerade an eine Stelle in Guillaume Machauts „Complainte“ denken: „Mein Kummer hat sich in Lachen verwandelt / Sag mir nicht, was dafür zu tun ist.“ Das ist das Lamento, das ist, was dieses Stück aussagen will.

 

Maja Zimmermann ist Tanzdramaturgin und arbeitet u. a. mit Künstler*innen wie Dragana Bulut, Ligia Lewis und Miriam Jakob zusammen. In ihrer eigenen künstlerisch-wissenschaftlichen Tätigkeit untersucht sie Berührung und Relationalität in aktuellen Arbeitskontexten. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

 

 
Loading