TQW Magazin
Andrea Heinz über Every Body Electric von Doris Uhlich

Das Glück im haltlosen Kiefer

 

Das Glück im haltlosen Kiefer

Zwei nackte Körper auf dem Boden, liegend, kriechend. So werden die Zuschauer_innen in Doris Uhlichs Every Body Electric begrüßt. Es ist wie das Sinnbild des hilflosen Menschenwesens, das, ohne auch nur gefragt worden zu sein, in die Welt geworfen wurde. Zumal die Performer_innen, mit denen die Tänzerin und Choreografin ihr neuestes Stück erarbeitet hat, Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen sind. Also die maximale Hilflosigkeit, Verzweiflung gar? Ganz und gar nicht.

Man darf sich nicht täuschen. Vielmehr sollte man von Anfang an eines verstehen: Es geht hier nicht um Fragen von Normalität und Können, von Mangel oder Fehler. Was Doris Uhlich untersucht, ist vielmehr die reine, physische Tatsache des Als-Körper-in-der-Welt- Seins. Sie zeigt, wie einzigartig und besonders jeder Mensch ist, wie individuell auch seine Ausdrucksweisen sind. Und Menschen sind wir alle, oder wie Depeche Mode einmal im Stück singen: „People are People“. „Different people have different needs“ – so einfach könnte es sein.

Die neun Menschen also, die im Stück zu sehen sind, Erwin Aljukic, Yanel Barbeito, Adil Embaby, Sandra Mader, Karin Ofenbeck, Thomas Richter, Vera Rosner, Danijel Sesar und Katharina Zabransky, allesamt erfahrene Tänzer_innen und Performer_innen, zeigen sich, sie stellen sich vor. Zu elektronischen Beats, zu Rockmusik oder ganz in Stille, gemeinsam oder allein entstehen die „Energietanzformen“ oder „Energetic Icons“: ganz persönliche, dichte, intensive Bewegungsmuster, die dem Publikum die Personen näherbringen, mehr, als es jede verbal artikulierte Anekdote könnte. Es sind Bewegungen, die tief aus den Körpern kommen, aus ihren Erinnerungen und Erfahrungen, und das macht sie so aufgeladen, so bedeutungsvoll. Auch wenn es oft nur ganz kleine Regungen sind, ein Arm, der geschwungen wird, eine Hüfte, die vor- und zurückgeht, ein Kiefer, der haltlos hin- und herwackelt: Alles hat seine eigene Energie, seine eigene Wucht. Alles hat seine Geschichte. „Das äußere Bild der Energetic Icons ist eine Art Spiegelbild meines Inneren, ich grabe eine weitere Schicht meines Individuums aus“, so beschreibt es der Performer Danijel Sesar. Doris Uhlich nennt die Freilegung dieser Bewegungen „futuristische, energetische Archäologie. Jeder Mensch hat eine ganz eigene Energieressource, fleischliche Freude und Möglichkeiten, sie zu artikulieren. Und jeder Körper hat eine spezifische Dynamik, spezifische Beats.“

Und nicht nur die Körper tanzen, auch die Rollstühle und die Krücken werden lebendig. Mal sind sie tatsächlich eine „Body Extension“, eine Erweiterung des Körpers, und werden in die Bewegungen integriert, als Hilfsmittel genutzt oder selbst bewegt. Aber sie werden auch zerlegt, werden stehen gelassen, weil sie gerade nicht gebraucht werden, sie müssen die Aggression ihrer Besitzer_innen aushalten. Apropos Aggression: Die Energietanzformen geben alle Emotionen wieder, die Menschen im sozialen Miteinander entwickeln können. Berührend die Szenen, in denen die Performer_innen, mithilfe ihrer elektrisch angetriebenen Gefährte, sich gegenseitig mitziehen, tragen, herumfahren, helfen, wenn die Kraft ausgeht. Aber es gibt auch Gesten der Abgrenzung. Und es gibt spielerische, scherzhafte Momente, etwa wenn die Rollstuhlfahrer_innen immer wieder mit Vollgas auf die ersten Zuschauer_innenreihen zusteuern – und dann knapp vor deren Füßen abbremsen. Wie in älteren Arbeiten von Doris Uhlich tanzt auch dieses Mal wieder das Fett, und es tanzt auch das nackte Fleisch. Es könnte eine Entblößung, eine Auslieferung sein, aber das ist es nicht. „Die Nacktheit in Every Body Electric ist ein wichtiger Schritt zur Selbstbehauptung der Performer_innen. Ich habe meine ‚Philosophie des Fleisches‘ mit ihnen geteilt. Durch das Ablegen von Gewand kommt eine weitere Schicht im Stück hinzu“, sagt Doris Uhlich dazu. Tatsächlich ist, was sie macht, eine philosophische Unternehmung: Wie funktioniert das, zwischen den Körpern und den Menschen, die in ihnen stecken? Die, allesamt, nicht gefragt wurden, ob sie das wollen. Und die, allesamt, beschränkt und hilflos sind in ihren Körpern, die so vieles nicht können, was der Geist vielleicht gerne würde. Welche Beschränkung „normal“ ist und welche nicht, das ist am Ende nur eine Definitionssache, eine Konstruktion. Aber, das lehrt diese Philosophie, die Einschränkung ist nicht das, was den Menschen ausmacht. Es ist die Energie, die in jedem einzelnen Körper steckt, eine Energie, die er selbst produzieren, die er aber auch weitergeben, teilen kann. Es ist die Schönheit dieser Energie, dieser Lebendigkeit, dieser Körper. Das Glück der Bewegungen und der Möglichkeiten, seien sie noch so klein. Every Body Electric erzählt nicht von Verzweiflung, es ist kein trauriger Abend. Es ist ein Abend voller Freude und Leben.

 

Andrea Heinz ist 1985 in Bad Reichenhall geboren. Studium Literaturwissenschaft, Philosophie, Kunstgeschichte und Schwedisch in Passau und Wien. Sie lebt als freie Autorin in Wien und veröffentlichte unter anderem in Der Standard, Die Zeit, an.schläge. Derzeit promoviert sie am Institut für Germanistik der Universität Wien über Ingeborg Bachmanns Todesarten-Projekt.

 

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