TQW Magazin
Belinda Kazeem-Kamiński über Still Not Still von Ligia Lewis

Liebe Ligia oder Einige Gedanken, die ich gerne mit dir geteilt hätte

 

Liebe Ligia oder Einige Gedanken, die ich gerne mit dir geteilt hätte

Geplant war, dass wir gleich nach der zweiten Aufführung von Still Not Still im TQW letzten Samstag miteinander sprechen. Nach der Performance am Freitag war ich ganz beschwingt von den frischen Energien, die ich aufgesogen hatte. Vor allem war ich glücklich darüber, a) dich auf der Bühne gesehen zu haben und b) am nächsten Tag mit dir ein Gespräch führen zu können. Leider kam es anders, die Performance musste abgesagt werden.

 

Eine Woche später hat Still Not Still mich immer noch nicht losgelassen. Ich schreibe hier einige meiner Gedanken, Querverbindungen und offenen Fragen nieder. Ich möchte mit einer bestimmten Ebene anfangen, einem möglichen Ausgangspunkt: dem englischen Wort ‚still‘ (reglos) und dem fortlaufenden Wechsel zwischen Bewegung und Reglosigkeit.

 

Wie du dich der Reglosigkeit auf der Bühne annäherst und dich um sie herumbewegst, hat mich an Christina Sharpes intensive Betrachtungen zu ‚still‘ in In the Wake: On Blackness and Being (2016) erinnert. Insbesondere an Kapitel 4, in dem sie beschreibt, was die im Auftrag von Louiz Agassiz gemachten Fotos von Delia und Drana in ihr auslösen. Sharpe stellt sich vor, wie die Szene sich abgespielt haben könnte, wie Drana und Delia sehr lange stillstehen mussten, damit die Fotos gemacht werden konnten, die später als Beweismaterial dienen sollten. Oder das kleine haitianische Mädchen mit dem Wort ‚Ship‘ auf dem Kopf, das bewegungslos auf dem Boden liegt und immer wieder in Sharpes Text auftaucht. Still as in standing still. Still as free from noise or sound. Während des Loops einer Szene in Still Not Still wird es mir plötzlich klar. Ihr steht alle vorn auf der Bühne und wendet euch ans Publikum als Zeug*innen (auf diesen Gedanken werde ich noch zurückkommen), bittet um Hilfe, ohne einen Laut von euch zu geben. Und wieder, still as free from noise or sound, still as in not done yet, ongoing. Always in relation to time and temporality. Still as anagrammatical in relation to Black life.[1]

 

In Listening to Images (2017) regt Tina Campt dazu an, bei ethnografischen Fotos nicht nur auf die Augen der Subjekte zu achten – sie nimmt konkret Bezug auf eine Fotoserie aus dem 19. Jahrhundert, die in Verbindung mit der Trappistenmission (unter der Führung deutscher Missionare) in Südafrika entstanden ist –, sondern die Aufmerksamkeit auf die „eingenommenen Körperhaltungen […] als sichtbare Manifestationen psychischer und physischer Reaktionen […] auf die Kolonialisierung und die dadurch ausgelösten ethnografischen Blicke“[2] zu lenken. Bei deiner Performance letzten Freitag musste ich an Campts Definition von stasis denken, an ihr Beharren darauf, dass Reglosigkeit nicht mit Bewegungslosigkeit gleichzusetzen ist, sondern ein Anhalten von „Kräften in Schwebe [und] eine unsichtbare Bewegung, die in angespannter Schwebe oder vorübergehendem Gleichgewicht gehalten wird; z. B. Vibration“.[3] Diese Bewegungen, das In-die-und-aus-der-Reglosigkeit-Fallen, werden in Beziehung zu einem Verständnis des Menschlichen gesetzt. Was keine erstrebenswerte Kategorie ist – das spüre ich, wenn ich deine Arbeit sehe – und nach der Performance denke ich über Tod und Erschöpfung nach, und darüber, wie wir immer weitermachen und durchhalten[4].

 

Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, kann in Form eines Kreises wiedergegeben werden. Das Umschließen ist dabei ein zentrales Motiv bzw. ein methodischer Ansatz. Szenen in Still Not Still loopen/werden geloopt, Posen und Gesten wiederholen sich/werden wiederholt, die Performer*innen umkreisen einander, nur um auf sich selbst zurückgeworfen zu werden. Und wieder werde ich in Gedanken über Zeitlichkeit und das Leben von Schwarzen im Hier und Jetzt hineingezogen. Ich wurde mir meiner eigenen Gegenwärtigkeit bewusst, während die Performer*innen in einer Dauerschleife Gewalt gegen sich selbst und andere darstellten. Ich blieb hängen, fühlte mich direkt angesprochen, nicht als Zuschauerin, sondern als Zeugin. Es gab mehrere Szenen, in denen ich aufspringen, auf die Bühne laufen und etwas tun wollte. Ich habe deine anderen Arbeiten nicht gesehen, also verallgemeinere ich hier vielleicht – wenn ja, korrigiere mich bitte –, aber ich habe mich gefragt, welche Rolle ich/das Publikum spiele/spielt, und das direkte Ansprechen von uns oder das An-uns-Herankommenlassen, dadurch, dass wir gezwungen sind, das mitanzusehen: Ist das etwas, das du konzipierst und mitdenkst?

 

Als die Beleuchtung, die von den Performer*innen immer wieder umgestellt wird, uns aus der Dunkelheit herausholt und anstrahlt, fällt mir die Akzentuierung einzelner Blicke auf, die Art, wie du den Blick des Publikums lenkst. So funktionieren doch Geschichte und Geschichtsschreibung (i. S. v. Glissant). Du weißt schon, das Sprichwort vom Jäger und dem Löwen … Geschichte ist*war kein Gegenmittel zu Gewalt. Der Akt des Erschaffens von Geschichte an sich ist gewalttätig und düster. Dennoch bietet die Dunkelheit Schutz; Orte, um Komplotte zu schmieden, Gedanken auszutauschen, zu beobachten und zu improvisieren. Während ich diese Zeilen schreibe, stoße ich auf ein Zitat von dir, das wunderbar treffend beschreibt, worum es geht: „Etwas zu produzieren, das über Bedeutung oder den Sinn hinausgeht, das ist es, was mich wirklich interessiert. Ich meine es ernst, wenn ich sage, ich interessiere mich dafür, was aus Unsinn entsteht – und zwar nicht im Sinn einer Flucht, sondern als einer weiteren Möglichkeit außerhalb der Vernunft. Das Theater erlaubt es mir zu träumen, aber meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen.“[5] Still Not Still. Still as in not done yet, ongoing, always in relation to…

 

Belinda Kazeem-Kamiński ist eine in Wien lebende Autorin, Künstlerin und Wissenschaftlerin.

 

[1] Christina Sharpe, In the Wake: On Blackness and Being, Durham and London, Duke University Press, 2016, S. 118.

[2] Tina M. Campt, Listening to Images, Durham and London, Duke University Press, 2017, S. 51: „embodied postures […] as visible manifestations of psychic and physical responses […] to colonization and the ethnographic gazes it initiated“.

[3] Ebd.: „forces in suspension [and] unvisible motion held in tense suspension or temporary equilibrium; e.g., vibration“.

[4] [Anm. d. Ü.: Sinngemäß übersetzt nach:] Curtis Mayfield, „Keep On Keeping On“, Roots, 1971. – Vielen Dank an Nicola Laurè al Samarai, die mich auf die Poesie von Curtis Mayfield aufmerksam gemacht hat.

[5] Ligia Lewis in Astrid Kaminski, „Meine Träume nehmen es mit den Albträumen auf, die wir Wirklichkeit nennen“, 2021, https://berlinartweek.de/magazin/autor/astrid-kaminski/, 17.2.2022.

 

 
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