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Astrid Peterle über Negotiations von Alexander Gottfarb

Der Einjahresplan

Negotiations Alexander Gottfarb

Der Einjahresplan

Die Bewohner_innen innerstädtischer Bezirke sind es gewohnt, durch Schaufenster nicht nur in Geschäfte zu sehen, in denen Waren zum Kauf angeboten werden, sondern auch Menschen in kreativen Berufen bei der Arbeit beobachten zu können. Architektur- und Grafikbüros fühlen sich in Ladenlokalen zu Hause und öffnen einen Blick in das prekäre Leben der Creative Businesses, in denen Nine-to-five-Alltage inexistent sind und Selbstausbeutung gang und gäbe. Diese Arbeitssituationen sind auch professionellen Performer_ innen und Tänzer_innen mehr als vertraut. Darum erscheint es nur schlüssig, dass es in Wien nun auch ein choreografiertes Geschäftslokal gibt. Alexander Gottfarbs Negotiations ist eine Art Durational Performance, in der 365 Tage lang, acht Stunden am Tag, für alle einsehbar, an Tanz oder besser gesagt mit Tanz gearbeitet wird. Kein Feiertag, kein Wochenende – ein Jahr lang kontinuierliches Arbeiten an Bewegung. Obwohl urbane Passant_innen an den Anblick kreativer Menschen hinter ihren Computern in Auslagen so gewöhnt sind, dass sie wohl nie innehalten, um diese bei ihrer Arbeit zu beobachten, zieht Negotiations ständig Publikum an. Zu befremdlich erscheinen die Vorgänge im Inneren des Lokals, auch wenn dort keine expressiven oder provozierenden Handlungen ausgeführt werden. In dem leeren, nicht besonders großen Raum, der mit seinen metallenen Säulen stark an New Yorker Galerieräume erinnert, befinden sich meist nicht mehr als zwei Performer_innen gleichzeitig, die einem Team von insgesamt 14 Tänzer_innen – inklusive Alexander Gottfarb selbst – angehören. Die Arbeitsmannschaft übt sich in Bewegungen, die soziale Rituale reflektieren und die Potenziale von Wiederholung und Transformation erforschen. Seit einigen Jahren entwickelt Alexander Gottfarb mit seinen Choreografien diese spezifische Bewegungssprache. Hier nun wird sie in größtmöglicher Kontinuität ausgelotet und weiterentwickelt. Diese Arbeitssituation grenzt in den vorherrschenden Produktionsprozessen von Performance und Tanz, zeitlich gesehen, nahezu an Luxus. Choreograf_innen müssen heute ständig Neues produzieren, um öffentliche Förderungen zu erhalten und von Institutionen programmiert und gebucht zu werden. Lange Probenprozesse bedeuten ökonomisch prekäre Situationen für alle Beteiligten. Darauf folgen extrem kurze Phasen der Aufführung, bevor der Kreislauf wieder von vorn beginnt. Für Gottfarb ist die Arbeit an Negotiations eine Unterbrechung der Rastlosigkeit; die Möglichkeit, durchgehend an einem Ort zu arbeiten. Diese vom zeitgenössischen Produktionssystem komplett abweichende Situation, die den Imperativ des ewig Neuen durchbricht, stellt den Choreografen jedoch vor andere Herausforderungen, andere Verantwortlichkeiten. Kontinuierlich öffentlich ausgestelltes Arbeiten erfordert eine genaue Logistik, um den Raum nie leer zu lassen. Es bedeutet für den Choreografen aber auch, loszulassen und den Prozess der Choreografie weniger zu kontrollieren als vielmehr zu beobachten. Er kreiert den Rahmen und die Struktur; die Arbeitsmannschaft der Tänzer_innen muss organisiert werden. Wie die Belegschaft eines Geschäftes, in dem der/die Chef_in nicht durchgehend anwesend ist, soll sie eigenverantwortlich agieren. Alexander Gottfarb und sein Team spielen in ihrem einjährigen Choreografieprozess ganz bewusst mit der Idee eines nostalgischen Fordismus.

Dieses tägliche Verhandeln alternativer Zugänge zu zeitgenössischer Tanzproduktion ist nicht die einzige Art von Verhandlung, die im Titel Negotiations steckt. Die Performance ist auch ein Verhandeln Einzelner mit Gemeinschaft bzw. im Konkreten der Performe- r_innen mit dem Publikum. Für die Einzelnen, also die Tänzer_innen, stellt eine derartig lange und kontinuierliche Arbeit an einer sehr spezifischen Bewegungsstruktur eine große Herausforderung dar. Alexander Gottfarb stellte seinem Team zu Beginn der Arbeit an Negotiations den Rahmen und die Struktur der Choreografie vor sowie eine theoretische Begleitung zur Seite. Wichtiger als die Form einzelner Bewegungen ist dem Choreografen, dass die Tänzer_ innen ein Verständnis für die Aufgabe entwickeln und sich auf die minutiöse Arbeit am Thema der Wiederholung einlassen. Sie werden so auch ermächtigt, selbstständig zu agieren, jeden Tag ihre Aufgabe neu zu verstehen, und können täglich etwas Neues ausprobieren oder aber über Monate Bewegungsabläufe spezifizieren. Außer um die Arbeit an der individuellen Motivation und Bewegung – „Wo bin ich jetzt und wohin will ich gehen?“ – geht es stets auch um das Aushandeln der Beziehungen unter den Performer_innen im Raum; um ein Miteinander versus ein Nebeneinander. Es ist eine große mentale Anstrengung, so viele Stunden täglich zu tanzen. Durch die hochkonzentrierte Arbeit an Wiederholungen und über einen langen Zeitraum ausgeführten repetitiven Bewegungen könnten die Performer_innen mitunter in einen tranceähnlichen Zustand gelangen. Ihre Aufmerksamkeit soll aber stets im Raum bleiben, auch wenn die Gedanken vielleicht weit abschweifen. Dieses geistige Ziehenlassen bei gleichzeitiger bewusster Präsenz im Raum überträgt sich auch auf das Publikum als ein kommunikatives Angebot. Dieses kann hier, wenn es selbst in seiner Beobachtung der Tänzer_innen zur Ruhe kommt, einen Ort des Nachdenkens oder des geistigen Einhalts finden. In diesem urbanen Raum werden die beteiligten Akteur_innen nicht von Reizen überflutet, sondern die Geschwindigkeit des Agierens gedrosselt. Sowohl für die Tänzer_innen als auch für ihre Zuschauer_innen stellt sich, wenn sich nur minimale Komponenten verändern, immer wieder die Frage: „Wie vergeht Zeit?“ Wie jede Performance schafft auch Negotiations eine Gemeinschaft. Anders als in den meisten institutionellen Settings „stolpern“ viele Besucher_innen hier aber unerwartet in die Performance. Passant_innen bleiben vor dem Schaufenster stehen und treten ein, um kürzer oder länger zu verweilen. Sie versuchen, für sich einen Sinn in dem zu finden, was da vor ihren Augen passiert. Eine vermittelnde Person, die auf Nachfrage das Set-up erklärt, es aber nicht aktiv anspricht, ist immer präsent. Für Alexander Gottfarb und sein Team entsteht durch diese intime Situation der Gemeinschaft mit Beobachtenden auch eine völlig neue Erfahrung von Publikum. Manche beginnen mitzutanzen (was nicht unterbunden wird, solange die Struktur der Performance nicht „zerstört“ wird). Andere entwickeln sich zu Stammgästen, die regelmäßig wiederkehren. Negotiations ermöglicht somit Kontinuität nicht nur für die beteiligten Künstler_innen, sondern auch für das Publikum, das im Verlauf eines Jahres immer wieder zurückkommen kann und jedes Mal eine neue Erfahrung im selben Bezugsrahmen machen wird. Dieses Geschäftslokal, in dem keine Waren, sondern Erfahrungen angeboten werden, erweist sich als verlockendes Angebot: eine urbane Insel der Konzentration und Bedächtigkeit inmitten des Flusses aus Rastlosigkeit. Treten Sie ein und treten Sie aus (der Hast der Stadt)! Bis 26. Januar 2019 haben Sie noch Gelegenheit.

 

Astrid Peterle ist seit 2010 für das Jüdische Museum der Stadt Wien tätig, seit 2018 fungiert sie dort als Chefkuratorin. Seit Mai 2017 ist sie Kuratorin für Performance des donaufestival Krems. Nach dem Studium der Geschichte und der Kunstgeschichte in Wien, Berlin und New York promovierte sie 2009 und arbeitete als Lektorin an den Universitäten Wien, Graz und Salzburg. Sie ist Autorin zahlreicher Beiträge zur jüdischen Kulturgeschichte sowie zu zeitgenössischer Kunst, insbesondere zu Performancekunst, Choreografie, Fotografie und feministischer Kunstpraxis.

 

 

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