TQW Magazin
Christina Kaindl-Hönig über Limina / Sensation 1 von Mark Barden und Ligia Lewis

Der Raum zwischen Körper und Klang

 

Der Raum zwischen Körper und Klang

Ein einzelner heller Ton durchmisst schwebend den Raum, gerät zusehends in Schwingung, breitet sich langsam aus und interferiert dabei mit unmerklich auftauchenden neuen Klängen, wodurch eine immer dichter werdende Klangfläche entsteht, deren vibrierendes, von synthetischen Sounds durchwirktes Gewebe den Raum gleichsam in Bewegung setzt und seine Grenzen weitet. Durch das intensive inwendige Hören wird wie als spontane Reaktion darauf die Wahrnehmung auch auf das Äußere gerichtet, sodass nun der Blick mit erhöhter Aufmerksamkeit über die minimalistisch agierenden Musiker auf der Bühne gleitet. Da schlagen die Klänge gleichsam die Augen auf und vereinen Bilder und Töne in einem Moment rätselhaften Wiedererkennens, das gleichermaßen ins Vergangene und ins Zukünftige zu reichen vermag.

Limina, das im Auftrag von Wien Modern 2021 entstandene knapp 46-minütige kammermusikalische Stück für E-Gitarre, Saxophon, Synthesizer und Perkussion des 1980 in den USA geborenen und in Berlin lebenden Komponisten Mark Barden, vermittelt bei seiner Uraufführung in der Halle G des TQW durch das international hervorragend besetzte Ensemble Nikel in seinem ersten Drittel eine Art nachhaltigen Schwebezustand, der auch als Schwellenerfahrung beschrieben werden kann. Die Transparenz der sachte ausschwingenden und einander unmerklich ablösenden Klänge, die schließlich in ein Pulsieren übergehen, evoziert einen Zustand des Weder-noch bei zunehmender Aufregung: die Auflösung des Gewohnten in einen instabilen Zustand des Übergangs, der gerade durch seine Unvorhersehbarkeit den Keim zur Transformation eines wie auch immer gearteten Status quo in sich trägt.

Nicht nur die Erweiterung des Klangspektrums und die allmählich zunehmende Dynamik der dunkel anschwellenden Klänge machen die existenzielle Beunruhigung erfahrbar, die dieser flow-artige Zustand nicht minder in sich birgt, sondern auch der metaphorische Einsatz des Lichts bei diesem Konzert. Ist die schwarz verhängte, bis auf die im Halbrund arrangierten Musiker mit ihren Instrumenten leere Bühne anfangs noch hell ausgeleuchtet, versinkt sie zunehmend in eine Düsternis, in der alle Farben verblassen. Das strahlende Rosa, Grün und Gelb der bunten T-Shirts der Instrumentalisten verwandelt sich in ein diffuses Grau, ähnlich dem graphitfarbigen Leibchen des Perkussionisten Brian Archinal, auf dem in Versalien SILENZIO zu lesen ist: Drohung, aber auch Verheißung, die im Dunkel langsam verglimmt.

Denn die zarten Blas- und Schmatzgeräusche, die Patrick Stadler seinem Saxophon entlockt, werden alsbald übertönt von Rotorgeräuschen und sich beschleunigenden Perkussionsklängen, die sich wie ein langsam aufbrausender Sturm, ja wie alles verwüstender Kriegslärm zu einer bedrohlichen, scheinbar immer näher kommenden akustischen Wand aufbauen. Paradox erscheint plötzlich die Zeitwahrnehmung, ihr Accelerando bei gleichzeitigem Stillstand, bewirkt durch extreme Verdichtung akustischer Assoziationen. Bremsgeräusche, Quietschen, Stampfen und der verzerrte Klang menschlicher Stimmen, Rattern, Gurgeln und Atmen.

Dieser bedrohlich anschwellenden Geräuschwalze stellt sich unerwartet und beharrlich ein einzelner Ton entgegen, den Yaron Deutsch mit einem Geigenbogen an seiner E-Gitarre erzeugt. Ein gläserner Ton, der sich vibrierend verzweigt, dann überlagert wird von einem Knacksen wie von trockenen, zerbrechenden Ästen und erlischt, als die Klänge des Synthesizers (Antoine Françoise) brachial den Raum fluten: Eine schmutzig-graue Klangmasse aus verzerrten Elektroniksounds mit nervösem Puls steigt langsam höher, begleitet von Geräuschen, die mal an heulende Sirenen, mal an verzerrte Klageschreie erinnern. Sie dringen langsam in den Körper der Zuhörerin ein. Die tiefen Töne dieser Klangwellen erhöhen den Druck noch und bringen sogar den Boden der Tribüne zum Vibrieren. Längst hat dieser sich monströs ausbreitende Sound der Zerstörung die Bühnenrampe überschritten und sich zu einer ins Physische reichenden Bedrohung entwickelt. Es ist ein Frontalangriff auf die Sinne, der das Hören bis in die innersten Gewebeschichten des Körpers fühlbar macht, ehe der Klang bis auf einige wenige Töne plötzlich erstirbt. Da erscheint im Dunkel in der Mitte der Bühnenrampe unvermittelt eine Gestalt und nimmt breitbeinig im Halbrund der Musiker Aufstellung.

Es ist die 1983 in der Dominikanischen Republik geborene und in den USA und Berlin lebende Choreografin und Tänzerin Ligia Lewis in weißem T-Shirt und blauer Trainingshose, deren gesamter Körper spannungsgeladen zu vibrieren beginnt, als würden die eben verebbten Klangwellen in ihr nachhallen. Wie in Zeitlupe öffnet sie die Arme zu einer großen, einladenden Geste, während aus ihrem weit geöffneten Mund laute Atemgeräusche dringen, die elektrisch verstärkt werden, sodass sie durch diese akustische Hervorhebung eine abstrakte Überhöhung erfahren, die sie gleichsam vom Körper, der sie erzeugt, verfremdend trennen. Schmerzverzerrt biegt die Tänzerin den Kopf nach oben und blickt dennoch ins Publikum, während sich ihre Finger lockend auf- und abbewegen.

Sensation 1 ist Ligia Lewis’ bereits 2011 entstandene Performance betitelt, die sie in konzeptueller Zusammenarbeit mit Mark Barden 2021 überarbeitete, dessen Limina wiederum als Hommage auf Sensation 1 entstand. Indem Lewis’ etwa 24-minütiges Solo jedoch nicht zeitgleich, sondern ohne Musik auf Bardens fast doppelt so lange Komposition folgt, erscheint es gleichsam als stummes, jedoch nicht minder kraftvolles Echo auf jene Klänge, die eben noch mit bedrohlicher Vehemenz Bühne und Auditorium erfüllten.

Lewis bezieht sich in Sensation 1 auf den Videomitschnitt eines Konzerts von Whitney Houston aus dem Jahr 1999, bei dem der Star auf dem Höhepunkt der Karriere den vielfach preisgekrönten Hit I will always love you mit aufsehenerregender Intensität sang. Stimmgewaltig und in technisch höchster Präzision schuf sie einen Dialog mit dem Publikum, der an die gemeinschaftsbildende Kraft des Gospels erinnerte, der Houstons Anfänge als Sängerin bestimmt hatte. Indem sich Lewis einzelner ikonischer Gesten der Sängerin bedient, die sie extrem verlangsamt, mit einer enormen inneren Spannung vermittelt, dekonstruiert sie nicht nur das Bild einer Ikone der jüngsten Popgeschichte, sondern verweist zugleich auf den Menschen hinter der Maske des Stars und damit auch auf sich selbst, jenseits von Repräsentation: eine Frau, deren Identität durch die Erfahrungen vieler Generationen Schwarzer Frauen geprägt ist, bestimmt von Entwürdigung, Gewalt und Ausgrenzung, denen  Houston gleichsam ihre Selbstermächtigung als Künstlerin entgegenstellte, was ihren Zusammenbruch und ihren frühen Tod umso tragischer erscheinen lässt.

Fast unmerklich verwandelt sich das zum stummen Schrei verzerrte Gesicht von Lewis in ein strahlendes Lachen. Mit weit nach oben geöffneten Armen ballt sie allmählich eine Hand zur Faust, bereit zum Schlag, woraus wiederum eine Geste der Abwehr entsteht, das Gesicht voller Erstaunen dem Publikum zugewandt, dem sie, mittlerweile kniend, die Hände entgegenstreckt. Als sie ihren vibrierenden Körper langsam wieder erhoben hat, dringen in die Stille, die bislang nur ihre Atemgeräusche erfüllt hatten, die sachte erstarkenden Sounds des Ensemble Nikel, und im heller werdenden Bühnenlicht öffnen sich Lewis’ Fäuste zur triumphalen Abschlussgeste eines Stars – ein Bild wie für die Ewigkeit.

Indem Lewis’ skulpturale Tanzperformance und Bardens sich stetig transformierende Musik einander gegenübergestellt sind und keine Kunst der anderen gleichsam untergeordnet wird, erwächst aus ihrer zeitlichen Abfolge ein Spannungsverhältnis, worin sich beide Ausdrucksformen gegenseitig kommentieren, erhellen und erweitern. Während des Zuschauens verbindet sich die Wahrnehmung von Lewis’ fluiden Gesten zwischen Unterwerfung, Widerstand und Triumph mit der Erinnerung an Bardens Komposition, in der die mehrdeutigen Zeichen der Performance aufgenommen und musikalisch transformiert werden, zur Reflexion: Dem Publikum eröffnet sich durch diese assoziationsreiche Konstellation gleichsam ein gedanklicher Raum, worin es in diesem scheinbar endlosen Spiel von Verwandlung und Enthüllung auch die eigene Position innerhalb hierarchischer Strukturen infrage stellen muss.

Durchbrechen Barden und Lewis mit ihrer Konzeption die normativen Schau- und Höranordnungen zugunsten der Erforschung des situativen Moments, wodurch ein imaginativer Raum zwischen Körper und Klang entsteht, erzeugen sie zugleich einen Moment der produktiven Verunsicherung. Indem Musik und Tanz nicht den herkömmlichen Regeln der Repräsentation gehorchen, ja diese durch ihre Komplizenschaft erst sichtbar machen, geraten die Zuschauer*innen in einen Flow zwischen beiden Welten, wodurch die innere und äußere Entfremdung, die Lewis durch die Trennung von Körper und Stimme vermittelt, als veränderbar erfahrbar wird: Die malträtierte, aber nicht minder widerständige Physis des Menschen bei Lewis verwandelt sich mit den zart gestrichenen Gitarrenklängen des Aufbegehrens bei Barden zu einem utopischen Moment, der die sogenannte Wirklichkeit fragwürdig macht und die Möglichkeit realen Handelns in sich birgt: aus der Stille rätselhafter Selbsterkenntnis heraus.

 

 

Christina Kaindl-Hönig studierte Theaterwissenschaft und Philosophie in Wien. Von 2009 bis 2018 Lehrbeauftragte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien, zudem Schauspieldramaturgin bei den Salzburger Festspielen. 2011 erschien ihre Monographie Theater ohne Illusionen. Georg Büchners Ästhetik der Emanzipation. Sie arbeitet als Theaterwissenschaftlerin, -kritikerin und freie Autorin. Publikationen in Fachzeitschriften und in- und ausländischen Printmedien. Zahlreiche Jurytätigkeiten für Theater und Literatur.

 

 

 
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