TQW Magazin
Maurício Ianês über S_P_I_T_ Tag 3: Flávia Mudesto, Sara-Lisa Bals, Helena Araújo, Jules Fischer

Dialektik der Queerness inner- und außerhalb des Systems

 

Dialektik der Queerness inner- und außerhalb des Systems

Der dritte und letzte Abend des S_P_I_T_ Queer Performance Festivals, das auch heuer wieder im Tanzquartier Wien stattfand, wurde von einem Gespräch zwischen den Künstler*innen Hyo Lee, Sara-Lisa Bals und Denise Kottlett, Mitorganisatorin und Kokuratorin der Veranstaltung, eröffnet. Die von Lee eingebrachte Hauptfrage betraf die Definition dessen, was ein „queeres Gefühl“ ist. Die Konversation entwickelte sich zu einer Betrachtung darüber, wie queeres Gefühl stets die Umstände infrage stellt, in denen wir leben, die traditionellen sozialen Beziehungsmodi, Identitätskonstruktionen und Affekte. Was auf diese Einleitung folgte, behandelte tatsächlich Gefühle – doch ich würde sagen, dass über die Gefühle hinaus auch das erkundet wurde, was ich als zwei Arten der Dialektik sehe: eine Dialektik der Herrschaft und eine Dialektik des Wohlbefindens. Bevor ich allerdings fortfahre, scheint es mir wichtig, die Verwendung von „Dialektik“ in diesem Zusammenhang zu kommentieren, da sie als ein weitgehend binäres Analyseinstrument gesehen wird – und wir Queere hegen für gewöhnlich eine Antipathie gegen binäre Strukturen. Dialektik wird hier verwendet, um Konstellationen einander widersprechender Vektoren von Macht und Affekten zu bilden, die dennoch in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit stehen.

In diesem Sinne erscheint erwähnenswert, dass Autorschaft etwas ist, das meist als ein Instrument individuellen Ausdrucks und als Signatur erachtet wird, auch wenn alle gezeigten Performances kollektiven Bemühungen entsprangen. Wenn Queerness – was immer das bedeutet, da eines ihrer Hauptmerkmale das Hinwegsetzen über fixe Identitäten ist oder zumindest war –, wenn also Queerness im Kern von Ausdrucksweisen der Individualität und Subjektivität abhängt, die sich der sozialen Norm widersetzen, so hängt sie auch von ebendiesen Normen ab, um außerhalb von ihnen funktionieren zu können, sowie von einem starken Gemeinschaftsgefühl und einem kommunalen Netzwerk von Zuneigung und Unterstützung. Die Gezeiten dieser kommunalen Beziehungen durchbrechen idealerweise die sozialen, ökonomischen und oppressiven Unterteilungen von Gender, Rassifizierung und Klasse, die dem System entsprechen, in dem wir leben. Wie wichtig ist es dann, Autorschaft im Rahmen des traditionellen systemischen, bourgeoisen Modus individuellen Ausdrucks zu sehen und so ebenjenes System zu bestärken, das Queerness abzubauen sucht? „Wir sind nicht allein“ war ein Statement der drei am Künstler*innengespräch Beteiligten – aber sind wir allein, wenn wir die Kunstwerke signieren, die wir schaffen?

Eat Meat Politically der Künstlerin und Filmemacherin Flávia Mudesto in Kollaboration mit dem Künstler André Rachadel schlägt vor, ein politisches Bewusstsein des Geschmacks zu entwickeln. Indem sie sich einen – an der in der Performance verwendeten mobilen Küche angebrachten – Text von Jean-Luc Godard aneignen und ein „detournement“ (um Guy Debords Begriff zu verwenden) machen, scheint das Hauptanliegen der Künstler*innen die Umwandlung des Geschmacks veganer Speisen zu sein. Der Umstand jedoch, dass köstliches veganes Essen gratis ausgegeben wurde, begründete den zentralen politischen Anspruch des Werks, vor allem heutzutage, wo vegane Speisen in jedem Mainstreamrestaurant und auf Märkten zu Preisen über denen ihrer Gegenstücke verfügbar sind.

Die Politik des Essens wurde historisch von Künstler*innen eingesetzt, um Themen der Gemeinschaft anzusprechen, aber auch solche der Klasse und sozialer Ausbeutung. In jüngerer Zeit, da sie von Frauen und queeren Künstler*innen produziert werden, sind auch Fragen nach der Repräsentativität und Emanzipation dissidenter Körper oder von Körpern, die nicht mit den ästhetischen Auflagen des weißen, bourgeoisen, patriarchischen Systems und seiner Normen übereinstimmen, ins Zentrum der kulturellen Bühne gerückt. Eat Meat Politically ist diesen Themen nicht tiefgreifend bzw. gar nicht nachgegangen, benutzte aber z. B. die Namen der Speisen auf humorvolle Weise und sprach die lokale Kultur vermittels wirkungsvoller kannibalistischer Wortspiele an. Warum nicht ein wohlschmeckendes Simulakrum des Fleisches der Festivalkuratorin essen?

Leah + Johnny von Sara-Lisa Bals, Kenneth Constance Loe und Valentino Skarwan war eine Geschichte von queerer Liebe und Sehnsucht, die sich in der Subversion einer „Cowboy“-Western-Story abspielte. Hier wurde, was ich eine Dialektik der Herrschaft nenne, durch die Beziehung zwischen einer „Cow-Person“ und einem queeren, zu-menschlichen / mehr-als-menschlichen, witzigen Pferd dargestellt. Wenn in Geschichten dieses Genres der „Cowboy“ eine Dominanzbeziehung mit „seinem“ Pferd aufbaut, die in kolonialer Unterdrückung begründet ist, so wird diese Herrschaft hier in einer Unzahl von Zuneigungen gesprengt, die sich den Vektoren der Macht widersetzen. Diese Konstellation widerstreitender Gefühle – Freiheit, Sinnlichkeit, Humor, Sehnsucht, Zugehörigkeit, Eigentümerschaft – kombiniert mit schönen, sexy, zarten Kostümen, die sich auf die BDSM-Szene beziehen, wiewohl süß und frei von Genderauflagen und -macht, wird zum perfekten Ausdruck dessen, was Bals im Künstler*innengespräch als queere Utopie definierte. Dennoch, wenn ich der Künstlerin widersprechen darf, würde ich es eine Heterotopie nennen. Trotz der Verwendung des Begriffs „hetero“ – ich entschuldige mich für ein weiteres Wortspiel – scheint eine Heterotopie angemessener für die Ent-Definition eines queeren Raums der Zuneigung, der „anders“ ist als der normative und über menschliche Beziehungen oder solche, die auf Besitz, Eigentümerschaft und Schicklichkeit beruhen, hinausgeht. Unangemessene Beziehungen, die tatsächlich hier und jetzt geschehen können, an diesen Orten in diesen Zeiten, die distinkt und divergent sind, widerständig und sich immer ausdehnend, ungeduldig die Erfüllung des Versprechens einer Utopie erwartend.

Helena Araújos und Mzamo Nondlwanas my gentle wild squirts begann als individueller Akt mit Araújo allein auf der Bühne und entwickelte sich zu unterschiedlichen Formen der Präsentation und Hinterfragung von Herrschaft: Künstler*in x Publikum, koloniale Dominanz, Kontrolle und Unterdrückung von Körpern – farbigen Körpern, Frauenkörpern, queeren Körpern. Araújo trug ein T-Shirt mit einem Batikdesign, auf das unterhalb des Wortes „primitive“ bunte Blumen gedruckt waren. Kostüme wurden während des ganzen Festivalabends als politische Statements verwendet, eine Tatsache, die betont werden muss, da Kleider und Kostüme in der Gesellschaft wie in Performancedarbietungen üblicherweise als gegeben angenommen werden. Die humorvolle, aber starke Aussage des T-Shirts durchdrang die gesamte Performance: Die Explosion von Verlangen und Erotik als ein animalistischer Akt, der die Grenzen der Sprache sprengt, der als „primitiv“ betrachtete Ausdruck unkontrollierter Begierden, Körper, die vom normativen sozialen Standard abweichen, als „geringer“ und „subaltern“ erachtet werden und deshalb Ausgrenzung und Unterdrückung ausgesetzt sind. Araújos Verwendung von Pisse, Erbrochenem und wortlosem Knurren zu Beginn der Performance führte auch von normativen Beziehungen der Selbstbefriedigung weg. Nondlwanas plötzlicher Auftritt als autoritäre Gött*in brachte eine Umkehr der kolonialen Macht und Ausbeutung und entwickelte sich dialektisch zu einem erotischen Duell zwischen den beiden Performer*innen und dem Publikum.

Die Handlungen erschienen manchmal streng geprobt, manchmal improvisiert. Dadurch öffneten sie sich gegenüber einem unkontrollierten Setting. Diese Strategie wird in Performance und Theater außerhalb des Spektrums queerer Kultur schon lange angewendet. Hier wird die Konstellation der Elemente durch bestimmte queere, experimentelle, soziale Praktiken zelebriert.

Auch in Vanitas von Jules Fischer, Andreas Haglund, Ani Bigum Kampe, Julienne Doko und Kai Merke, der letzten Vorführung des Abends, traten die Kostüme ins Rampenlicht. Schön gestylt von Camilla Lind, zeigten sie dennoch eine andere Seite der Politik, da sie aus Stücken von Designerlabels wie Gucci und Maison Margiela zusammengestellt waren. Das passte gut zur Gesamtästhetik der Performance, die stark von Modebildern und choreografischen Normen beeinflusst zu sein schien, manchmal ein wenig stumpf, manchmal fragend, aber nie wirklich subversiv. Eine schöne Darbietung, die jedoch Zweifel hinsichtlich der Politik der Queerness hinterlässt: Sind Netzwerke und Rahmenbedingungen von Care und Unterstützung so wichtig für das Überleben queerer Personen, da sie doch ein Umfeld des nötigen Wohlbefindens schaffen, aber auch der Abstumpfung und der queeren Normativität? Enden wir Queere damit, systemischen Elitismus zu verstärken? Oder spricht die Performance diese Probleme dialektisch wie auch ironisch an? Verliert die Queerness ihre subversive Kraft? Wird Repräsentativität zu einem Werkzeug des kapitalistischen Systems und seiner Kultur?

Diesen Zweifeln sollte gerade in einer Zeit Gewicht beigemessen werden, in der Queerness in manchen kulturellen Umfeldern langsam zum Mainstream zu werden scheint, und Vanitas – man beachte den Titel, der gleichzeitig auf Narzissmus und das künstlerische Genre der Malerei verweist, angelegt darauf, die Betrachter*innen an die Vergänglichkeit des Lebens zu erinnern – berührt diese Themen definitiv.

Im Verlauf dieses Abends dachte ich immer wieder an Liquidität als eine Metapher für queere Subjektivität. Flüssigkeiten kochen, fließen über, schmieren, verformen sich und befeuchten, können aber Versuchen, sie an ihre Gefäße anzupassen, nicht entkommen. Sie können auch auflösen und diffundieren – ein mächtiges Werkzeug des Wandels. Es ist eine gute Mahnung, dass der Versuch, sich im Bestreben nach Wohlbefinden in die Gefäße einzupassen, zum Gegenteil führen kann, zu einer Form von Normativität, die wiederum Exklusion und Unterdrückung zu reproduzieren beginnen mag, inner- und außerhalb des queeren Spektrums und schließlich in ebendem System, das wir so dringend abbauen müssen.

Maurício Ianês (geb. in Santos, Brasilien, 1973) lebt und arbeitet in Wien. Ianês ist politische*r Aktivist*in, Forscher*in und Künstler*in und arbeitet mit verschiedenen Medien. Der Schwerpunkt seiner*ihrer Arbeit liegt auf partizipatorischen Aktionen, institutioneller Kritik, kontextuellen Praktiken und der politischen Dimension von Sprache. Ianês hat their/seine*ihre Arbeiten in internationalen Institutionen wie Pinacoteca do Estado de São Paulo (2019), Palais de Tokyo, Paris (2014), KIT – Kunst im Tunnel, Düsseldorf (2013), PAC Milano (2018) sowie bei der 28.und der 29. Internationalen Biennale von São Paulo (2008 und 2010) präsentiert. Derzeit lehrt Ianês am Institut für Transmediale Kunst der Universität für angewandte Kunst Wien.

 
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