TQW Magazin
Sarah Rogner und Philip Neuberger über Rakete Part 1: This resting, patience von Ewa Dziarnowska

Die ewige Wiederkunft des Gleichen, des Anderen und des Bruchs

 

Die ewige Wiederkunft des Gleichen, des Anderen und des Bruchs

Philip 19:07 OMG, das dauert ja 3 Stunden 😵‍💫

Sarah 19:07 Ja 🤦‍♀️ Hab extra noch vorgeschlafen jetzt

Sarah 19:10 Bin schon da :)

Philip 19:13 Ich auch gleich)

 

Gibt es noch mehr Arten zu tanzen als drei: für sich, füreinander, für ein Publikum? Und wo verorten sich die Sound-Person (Dionne Warwick, Janet Jackson, Free Jazz, Hundebellen, Hardcore-Punk, Windspiele, meditative Soundscapes) und die Licht-Person (vor allem blau und weiß und dunkel) in diesem Tanz?

Jede Wiederholung des Songs „What the World Needs Now Is Love“ übersetzt sich in den Bewegungen der beiden Tänzer*innen in immer leidenschaftlicher werdende Zustimmung. Wir sind wie Passant*innen, die vom Straßenrand aus eine Demo beobachten. Die Forderung: LIEBE FÜR ALLE.

Wie oft muss etwas wiederholt werden, bis einem Publikum selbst kleinste Variationen auffallen? Zehnmal? Eine halbe Stunde lang? Zweimal eine halbe Stunde? Wie oft kann etwas wiederholt werden, bis es sich abnutzt? Und wie oft muss es dann weiter wiederholt werden, um wieder interessant zu werden? Nach x Wiederholungen von „What the World Needs Now Is Love“ entsteht kurz der Eindruck, es sei tatsächlich genügend Liebe für alle da.

Dann, gerade als das Lied und der Tanz sich zu erschöpfen beginnen, ertönt Hundegebell. Wir erinnern uns an VALIE EXPORTS Installation „I (beat (it)) II“ (1980), in der von vier Bildschirmen aus Deutsche Schäferhunde einen liegenden Frauenkörper ankläffen. VALIE EXPORT erliegt der Erschöpfung, die durch ständiges Alarmiertsein entsteht.

Anders als bei VALIE EXPORTs Installation ist bei Ewa Dziarnowska nichts statisch, nicht einmal das Publikumsarrangement: Der Raum ist in Bewegung, die Tänzer*innen, die Stühle, die Zuschauer*innen, das Licht. Charme hat ja etwas mit Zaubern zu tun. Wie bringt eine Tänzer*in uns dazu, freiwillig von unserem Stuhl aufzustehen, damit sie ihn woanders hinstellen kann?

Nach dem Bellen: schräger Techno und Hardcore-Punk. Lockert uns das auf oder spannt es uns noch mehr an? Irgendwie beides, während der Tanz andauert und Druck aufgebaut wird. Gleichzeitigkeit und das parallele Existieren von gegensätzlichen Zuständen scheinen ein Thema zu sein. Im von einer Kappe halb verdeckten Gesicht von Ewa Dziarnowska zeichnet sich der Druck sichtbar ab. Ihr Körper tanzt weiterhin mit großer Leichtigkeit.

Wie nennt man die Stimmung, wenn Leah Marojević erst eine geschlossene Tür einrennt, dann eine Wand verschieben will und sich dazwischen dramatisch auf den Boden fallen lässt?

Mit der Beweglichkeit und der Veränderbarkeit gehen Passagen der Ruhe einher. Das Tempo hier: langsam und konzentriert. Dziarnowska und Marojević sind zwischen ihren Ausbrüchen behutsam und berührend – sprichwörtlich: Mal lehnt sich eine an ein Paar Beine an, mal legt die andere den Kopf auf einen fremden Schoß. Die Luft im Raum transformiert sich, fühlt sich an wie das Körpergefühl der Tänzer*innen zum Einatmen.

„Rhythm Is a Dancer“ auf Polnisch ist jedenfalls ein Banger. Die Körper der Tänzer*innen schütteln dazu die Anspannung ab. Gleich im Anschluss ertönen Trompetenklänge, Fanfarenstöße und Insekten. Eine Militärparade während einer Heuschreckenplage? Sind das Denkanregungen zu Themen wie Post-Ost-Identität, aktuellen Kriegen und Krisen? Wie kollektiv statt individuell, wie emotional statt verkopft damit umgehen?

Hand aufs Herz. Aber will Ewa Dziarnowska es vor Schmerz herausreißen oder versucht sie, eine Blutung zu stoppen? Spätestens als sie zu Janet Jacksons „Pleasure Principle“ immer wieder inbrünstig schreit, wird die Gleichzeitigkeit von extremen Kontrasten allmählich zum Normalzustand.

Braucht es bei einem dreistündigen Tanz vor einem Publikum einen Nullpunkt, von dem aus Brüche stattfinden und zu dem zurückgekehrt werden kann? Kann sich ein dreistündiges Programm nur aus Brüchen zusammensetzen?

Letzter Akt, wieder wird „What the World Needs Now Is Love“ im Loop gespielt. Diesmal gibt es zwei Sesselkreise, die Tänzer*innen stehen einander gegenüber, eine besondere Intimität stellt sich ein denn jetzt tragen beide das blaue Kleid, mit dem Leah Marojević vor zweieinhalb Stunden den Tanz begonnen hat. Stunden vergehen, Tausende Dinge passieren gleichzeitig, es ist Nietzsches „ewige Wiederkunft des Gleichen“, und wir können bisweilen nichts dagegen tun. Unsere zeitgenössische Welterfahrung erzeugt Leerstellen in den Menschen. Vielleicht bietet Dziarnowska uns Tools an, um damit umzugehen, z. B. aufstehen und den Platz wechseln. Oder, wie es im Titel steht: Rest & Patience.

 

Philip Neuberger ( – | er | sie ) arbeitet an der Schnittstelle von Theater, Tanz, Performance und künstlerischer Forschung. Im Rahmen ihres Studiums an der Hochschule der Künste Bern setzte sie sich zunehmend mit Gender als Performance und mit kollektiven Arbeitsformen auseinander. Neben seiner künstlerischen Arbeit, solistisch und mit seiner Gruppe finsterbusch collective, ist Neuberger die operative Leitung von Brücki 235, dem „unkuratierten Raum für Tanz + Theater“ der Stadt Zürich, ausserdem Teil des Kurationsteams von Designathon und Student im Master Critical Studies an der Akademie der bildende Künste Wien.

Sarah Rogner ist Aktivist*in und multidisziplinär künstlerisch tätig, mit Fokus auf Theorie und Praxis sozial-ökologischer gesellschaftlicher Transformation, als Teil eines queeren & feministischen Landwirtschaftskollektivs und eines Fahrradkollektivs. Aktuell, sich bewegend zwischen dem Gemüsefeld und dem Studium an der Akademie der bildenden Künste Wien, mit gelebter Bezogenheit auf die Ambivalenz einer trans-klassen Perspektive.

 
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