TQW Magazin
Wera Hippesroither über In its Entirety von Philipp Gehmacher

Die Resonanz innerer Landschaften

 

Die Resonanz innerer Landschaften

Join the landscape – take it all in!

Die von Philipp Gehmacher ins Mikro gekeuchte Aufforderung eröffnet den an zweiter Stelle stehendenden Teil 1 seines Stücks In its Entirety und ist zugleich bezeichnend für die Stimmung der gesamten Aufführung. Der Wiener Choreograf und Tänzer nimmt das 20-Jahre-Jubiläum des Tanzquartiers und die Tatsache, dass er bereits zur Eröffnung des Theaters ein Auftragsstück entwickelt hat, zum Anlass, über die eigene Körperpraxis nachzudenken und dem Publikum Einblicke in die künstlerische Biografie zu eröffnen. Midlife – midcareer. Werden wir hier Zeug*innen einer Krise? Scheinbar zwischen Privat- und Bühnenperson oszillierend, trägt der Choreograf poetische, manchmal reimende Textfragmente auf Englisch und Deutsch vor, wobei eine Armgeste als Ankerpunkt dient.

„Ja, mein Name ist Philipp Gehmacher.“ In its Entirety beginnt mit Teil 2. Gehmacher steht am Rand der Bühne, der Publikumsraum ist noch hell erleuchtet. Zwischen Vortrag mit Mikro und Notizen in der Hand und einer vollkommen leeren, dunklen Bühne wirken tänzerische Elemente, die ebenso fragmentarisch bleiben. Immer wieder hält Gehmacher inne, die zögerlichen Bewegungen spiegeln das zuvor Gesagte und schreiben es in den Raum ein. Gehmacher nutzt die performative Qualität von Sprache, um den Körper in Bewegung zu versetzen, was eine Landschaft entstehen lässt. In diesem Raum wirken innere Regungen, Emotionen, Ideen und Anekdoten gleichsam wie der Tänzerkörper. Die Bewegungssprache ist wie die gesprochene disruptiv, tastend und organisch – die akustische Ebene mit abstrakten Sounds von Peter Kutin und Florian Kindlinger unterstreicht dies noch. Immer wieder kommt es zu Momenten des Verharrens und der Verletzlichkeit. Wellen gehen durch den Körper, Gehmacher zittert und krümmt sich am Boden zusammen.

In its Entirety wirft vieles in den Raum, ohne Antworten geben zu wollen. Nach und nach füllt sich die leere Bühne mit biografischen Fragmenten, Erlebnissen, choreografischen Elementen und Erinnerungen, um eine künstlerische Landschaft zu zeichnen, die Gehmacher durchtanzt. Die Bruchstücke der Künstlerbiografie lagern sich als Spuren ab, verweben sich mit den unterschiedlichen Körperlichkeiten und bringen auf performative Weise einen spezifischen Raum zur Entstehung. Denn Raum ist, folgt man Henri Lefebvre,[1] dem Vorreiter der marxistischen Stadtsoziologie, ein soziales Phänomen, das die mentale Ebene, Handlung, Wahrnehmung und den Körper miteinschließt. Raum ist für unsere gelebten Erfahrungen maßgeblich und genauso wie unsere Handlungen Raum formen, formt auch unsere Umgebung unsere Wahrnehmung.

„Lefebvre posits that space is not a container, but rather, the very fabric of social existence, a medium woven of the relationships between subjects, their actions, and their environment. Space in its traditional sense is not a pre-existing receptacle for human action, but is created by that action; space, in turn, exerts its own variety of agency, modelling the human actors who have configured it.”[2]

Gehmacher konstitiuiert diesen Raum in der Verschränkung von Sprache, Stimme, Gestik und Bewegung, gleichermaßen hat dieser Raum eine eigene agency inne und wirkt auf den Tänzerkörper, was sich in der Zweiteilung des Stückes ausdrückt. Nachdem sich in Teil 2 viel im Raum abgelagert hat, muss dieser in Teil 1 wachsen. Nach und nach öffnen sich mehrere Ebenen von Vorhängen und vergrößern den Aktionsraum. Das Licht ist nun heller. Auch Gehmachers Bewegungen wirken fröhlicher. Zwischendurch dreht er sich um die eigene Achse und kreist mit weit von sich gestreckten Armen durch den Raum. Die schwarzen Leggings sind gegen einen bunten Anzug – zwischen Clown und Pyjama – ausgetauscht. Die ausgelassene Körpersprache versetzt in eine Stimmung kindlicher Begeisterung, bevor es zum Bruch kommt. Jetzt steht Gehmacher in Jeans, T-Shirt und Sneakern vor uns. Ist das jetzt ein Alltagskörper? Wieder es ist die Stimme, die in Bewegung versetzt, doch ihre Körperlichkeit hat nun eine andere Qualität. Gehmachers gesprochenes Wort tritt in Dialog mit Alex Franz Zehetbauers gesungenem Echo. Die textliche Assoziationskette wird von choreografischen Bewegungsskizzen begleitet und schafft einen Resonanzraum zwischen Wort und Bewegung. Dabei bleibt Zehetbauers Stimme aber eigentümlich körperlos. Sie ertönt von verschiedenen Ecken im Raum aus, ohne dass der Sänger auf der Bühne präsent ist.

Die unterschiedlichen Rollen, in denen Gehmacher an diesem Abend auftritt, lassen sich mit Lefebvres räumlicher Triade lesen. In seiner 1974 erschienenen Abhandlung La production de l’espace[3] unterteilt der französische Soziologe Raum in drei Ebenen.[4] Die Triade setzt sich aus den Repräsentationen des Raumes, räumlichen Praktiken und Räumen der Repräsentation zusammen, wobei alle Ebenen in Relation zueinander stehen und als ineinander verschränktes Gefüge zu denken sind. Repräsentationen des Raumes (espace conçu) bezeichnet die gängigste Raumqualität, das sind Konzepte und Vorstellungen von Raum, also eine abstrakte Qualität auf der mentalen Ebene. Diese Ebene hat viel mit Wissen und Macht zu tun, Lefebvre nennt Stadtplanung oder Kartographie als Beispiele. Hier geht es um Idealismus. Räumliche Praxen hingegen (espace perçu) sind tägliche Routinen und Erfahrungen, die die erste Ebene inkorporieren. Auch gesellschaftliche Konventionen von räumlicher Nutzung spielen hier eine Rolle. Es geht um Physisches und Materialismus. Die dritte Ebene, die Räume der Repräsentation (espace vécu) beschreibt dann die gelebte Realität von Personen. Handlung und agency sind dieser Ebene zugehörig. Hier verschränken sich Idealismus und Materialismus.

Wenn Gehmacher zu Beginn des Stückes auf die Bühne tritt, sich eine Perücke aufsetzt, um an das volle Haar von vor 20 Jahren zu erinnern und mit den Worten „Ja, mein Name ist Philipp Gehmacher.“ einsetzt, ruft dies Erwartungshaltungen und Konventionen des Theaterbetriebs ab, es handelt sich um die abstrakte Ebene des espace conçu: in den Köpfen des Publikums bildet sich sogleich ein Raum, der aus Erfahrungen bisheriger Gehmacher-Stücke und Erwartungen besteht. Spricht Gehmacher dann später über Anekdoten aus dem Probenalltag, das Entwickeln seiner Körperpraxis und die Probleme damit, entsteht der espace perçu, der Raum der physischen Praxen und Erfahrungen, die in einem engen Zusammenhang zu den Erwartungen und Konventionen des espace conçu stehen. Der gelebte Raum, der von Handlung getragen wird, der espace vécu, zieht sich sicherlich durch das gesamte Stück und veranschaulicht, wie die drei Raumebenen nur als Gefüge im Zusammenspiel funktionieren. Gehmacher trägt für In its Entirety verschiedenste Bruchstücke einer künstlerischen Biografie in den Raum, setzt sich dem inneren Affekt aus legt eine fragmentarische Landschaft frei. Aus welchen Teilen setzt sich das choreografische Alphabet zusammen? Lässt sich alles auf die eine Armgeste zurückführen, die die einzelnen Bruchstücke zusammenhält? Dabei wirkt diese Geste wie der vergebliche Versuch, etwas einzufangen, etwas zu halten, was nicht greifbar ist. „Reaching for more. Grasping what is not graspable. Reach out, hold onto something.“

 

Wera Hippesroither: Arbeitet am Zentrum Fokus Forschung der Universität für Angewandte Kunst Wien im Bereich Publikationen und Wissenstransfer. Aktuelle Dissertation am Institut für Theater-, Film und Medienwissenschaft der Universität Wien zum Thema Performing Space: Zum Verhältnis von Performanz und Raum im ortsspezifischen Performancetheater. Regelmäßige Theaterkritiken und Veröffentlichungen u.a. in FalterPW-Magazine, Programmheften und Katalogen. Herausgabe und Redaktion von Fachpublikationen und Journalen, u.a. in der Reihe Forum Modernes Theater.

 

[1] Vgl. Lefebvre, Henri, The Production of Space, übers. v. Donald Nicholson-Smith Malden: Blackwell, 2011.
[2] West-Pavlov, Russell, Space in Theory: Kristeva, Foucault, Deleuze, Amsterdam: Rodopi, 2009, S. 19.
[3] Hier wird die englische Fassung genutzt: Lefebvre, The Production of Space.
[4] Für einen Überblick vgl. auch Elden, Stuart, „‘Es gibt eine Politik des Raumes, weil Raum politisch ist.‘. Henri Lefèbvre und die Produktion des Raumes“, An Architektur 1 (2002): S. 27–35.

 
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