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Katharina Lacina über Affair von Christine Gaigg / 2nd nature

Die Unendlichkeit des Begehrens

 

Die Unendlichkeit des Begehrens

Im Foyer sehe ich die Tänzer*innen, die ihre Posen einnehmen, zwei Männer, eine Frau, es wird gefilmt. Christine Gaigg performt, eine Hand an der Scham, die andere in der Hose eines der Tänzer. Manche Besucher*innen sehen zu, einige müssen noch zur Garderobe, manche unterhalten sich leise. Nähe und Distanz, Neugier, einige Blicke verstohlen, andere direkt, ein Tanz, der jetzt schon beginnt oder besser der immer schon stattfindet. Sehen und Sichzeigen in ihrer Dialektik, ein Sehen, das gesehen wird, eine beobachtete Beobachtung.

Kurz darauf Einlass. Die Bänke für das Publikum sind als Dreieck angeordnet, die Mitte des kargen Raums ein Dreieck für Affair, den dritten Teil von Gaiggs Trilogie über Sexualität. Die Tänzer*innen sind im Publikum, zwischen den Leuten, sind unter uns, sie sind wir. Den Text hat die Künstlerin in den 1990er-Jahren geschrieben, ein „objet trouvé“, das vielstimmig in einer dichten Sprache vom Begehren der*des* Anderen erzählt.

Das Erotische wird an der Macht deutlich, die Gaiggs Figuren antreibt. Sie zeigen sich als Sehnende, Suchende, Zweifelnde, Sichzerfleischende, getrieben vom Gefühl eines Mangels, das einen Reigen von Suche und Erfüllung initiiert. In Platons »Symposium«[1] erscheint Eros als Sohn von Penia, der Armut, der immer Bedürftigen, und Poros, dem Wegfinder, der listig Möglichkeiten entdeckt, dem Verlangen den Weg zu bahnen. Eros ist die Erfahrung dieses Mangels verbunden mit der Kraft, Widerstände zu beseitigen, um ihn aufzuheben. Von der Zügellosigkeit der Sehnsucht und der Erfahrung einer Macht an sich selbst erzählen Gaiggs Figuren, vermittelt durch Text und Körper. Gespräche, Selbstgespräche, Nachrichten zeigen die immer neuen Wege zum Körper der*des* immer neuen Anderen. Im Reigen von Erregung, Hoffnung, Enttäuschung und Ekstase kommt eine vielschichtige Sexualität zutage, die sich in der Begegnung mit vielen ihre Bahn bricht.

Affären lebten immer schon vom Reiz des Durchbrechens normativer Grenzen, an denen sich Begehren entzündet und Wege erst gefunden werden müssen. Doch der Grenzübertritt ist nicht mehr von einem Kampf um die*den* Dritte*n und den oft katastrophalen Folgen charakterisiert, wie sie uns noch in den Romanen von Émile Zola oder Henrik Ibsen begegnen,[2] in denen Untreue – vor allem weibliche – nur für einen hohen Preis zu haben ist. Die Grenzüberschreitung heute stellt sich als Suche nach dem*der jeweils neuen Anderen dar, wie ein Reigen, unendlich fortsetzbar, als Sammeln von Anfängen, Küssen und Körpern. „Alles zu wollen und an allem dranzubleiben“, höre ich. Die Performer*innen bewegen sich durchs Publikum wie Kraftfelder, Geflüster zwischen den Reihen, Berührungen, ein Hemd wird aufgeknöpft, Füße massiert. Dann wechselt das Licht, und ich höre die Stimmen der Suchenden in ihrer schier unendlichen Bewegung. Die Festlegung auf die*den* Eine*n schließt aus heutiger Perspektive nicht nur die*den* Andere*n aus, sondern alle Anderen, alle – die Öffnung des Raums, auch des Zuschauer*innenraums, schließt hingegen ein, weist auf Grenzenloses. Alle werden als Möglichkeiten sichtbar, dem Begehren ist Raum gegeben, sich jederzeit zu entzünden, wenn die*der eine Nächste aus der Menge heraustritt. „Die Menschen werden Beute ihrer unbegrenzten Möglichkeiten. […] Nicht mehr Zwänge, Regeln und Gewohnheiten halten die Menschen von ihren Möglichkeiten zurück, sondern andere Möglichkeiten“, schreibt Sven Hillenkamp.[3] Auch von diesem scheinbar paradoxen Gedanken, dass unendliche Möglichkeiten die Begehrenden zur rastlosen Beute des eigenen Begehrens machen, erzählt Christine Gaiggs Affair. Irgendwann fällt der Satz: „Es funktioniert alles nicht“, und hinterlässt mich nachdenklich.

 

 

[1] Platon, Symposium, hg. von Barbara Zahnpfennig, Hamburg 2012.
[2] Z. B. Ibsens Gespenster, Zolas Ein Blatt Liebe, Thérèse Raquin, Nana.
[3] Sven Hillenkamp, Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit, München 2012, S. 49f.

 

Katharina Lacina ist Philosophin und unterrichtet an der Universität Wien, wo sie als wissenschaftliche Koordinatorin des ULG „Philosophische Praxis“ und des ULG „Ethik“ tätig ist. Sie leitet das Modul Philosophie des Studiums Generale am Postgraduate Center.

 

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