TQW Magazin
Mariella Greil über Together the parts Tag 4, 5, 6 kuratiert von Katalin Erdődi und Philipp Gehmacher

Dringlichkeit eines teil-weisen Miteinanders – Praxis in anarchischer Verantwortung

 

Dringlichkeit eines teil-weisen Miteinanders – Praxis in anarchischer Verantwortung

Über drei Tage des performativen Gatherings Together the parts / Teil 2 (Tage 4–6) haben sich komplexe thematische Verflechtungen ergeben – wie im queeren „Bandltanz“ Kompositum V / Stubenspiel (Samstag) von und mit Thomas Hörl und Peter Kozek in Zusammenarbeit mit den Performern Andrew Champlin und Grayson Ruple und dem teilnehmenden Publikum. – Der Versuch, diese in einer retrograden Denkbewegung wieder in ihre Singularität der oftmals kollektiven Erfahrungsstränge aufzudröseln, wird naturgemäß weder eine vollständige Entwirrung oder Auflösung ergeben, noch einer chronologischen Entflechtung folgen. Was bleibt, ist die vielschichtige Resonanz des Dreitagefests, die Empfindung und das Insistieren politischer und ästhetischer Positionierung der unterschiedlichen künstlerischen Praxen mit willkommen sinnlichem Nachhall. Differenzierte Umspielungen verdichten sich in mehreren Reflexionsrunden zur Frage nach kollektiv-performativem Handeln, das postcovid eine existenzielle Dringlichkeit hat, und widmen sich in schillerndem Zusammenspiel der Reibung, die sich zwischen Kollektivkörper und Einzelwesen ergibt. Eine Reibung, die das Potenzial in sich trägt, soziale Wärme zu erzeugen, das Raum-Zeit-Kontinuum im Moment aufzuheben und im Gewebe des Miteinanders aufgehoben zu sein.

Peter Kutins ROTOЯ – A Sonic Body (procession/sonic intervention) im Live-Zusammenspiel mit Freya Edmontes (Mundharmonika, Stimme, Electronic Devices) beschleunigt am Ende von Together the parts und hebt ab zu einem hologrammartigen, sonischen Körper. Vier Lautsprecher bringen die Horizontalität zum Rotieren, wobei Sound, Objekt und sein Abbild (projiziertes Video) über die Modulation der Drehgeschwindigkeit Frequenzen aneinander- oder auch entkoppeln. Peter Kutin stellt fest: „Die entscheidenden Momente passieren dann, wenn unterschiedliche Geschwindigkeiten scheinbar zu einer gemeinsamen Resonanz finden.“[1] Das Scheinbare des Gemeinsamen hinterfragt die Transparenz der Sinnesempfindung des Moments. Hier überlagert sich die multimediale ROTOЯ-Erfahrung im synästhetischen Denken[2] mit der Erinnerung, dass Michael Turinsky im listening circle zum Thema „Crip Choreography“ von unterschiedlichen Zeitlichkeiten spricht. Es weht gemächlich ein Echo von Foucaults Konzept der Heterochronie am Wahrnehmungs- und Denkhorizont vorbei. Die Zeitfelder berühren sich in der Ausdehnung der Horizontalität, da, wo Vision, Jetztzeit und Vergangenes sich ineinander verschränken. Michael Turinsky spricht über Verletzlichkeit, über den Vorschlag, Körperlichkeit inklusiv und in Diversität zu leben, und erzählt von der Praxis des „lying down for rights“. Diesmal weht eine visuelle Erinnerung an Mahatma Gandhi vorbei, den Friedens- und Menschenrechtsaktivisten, eine eindrucksvolle Szene im Biopic Gandhi (1982), in der die Protestierenden sich auf die Erde legen, als die berittene britische Kolonialmacht auf die Gruppe zugaloppiert. Die Pferde scheuen, und tatsächlich: „They won’t step on us if we lie down!“ Horizontale Fläche – gemeinsam geschafft.

Verbindungen, Netze, Seilschaften, Flechtwerke, Elastizität, Beisammensein, Verknüpfung, Kontakt, Begegnung, Zusammenhang, Relation, Gemeinschaft. Der Raum zwischen performativem und skulpturalem, aktivistischem und künstlerischem Handeln wird durch partizipative Formate vermessen, gequert und queered. In der kuratorischen Landschaft – gestaltet von Katalin Erdődi und Philipp Gehmacher – zeigt sich eine unvermeidlich vielfältige Performativität von künstlerischen und ästhetischen Praxen in ihren sozialen (Um-)Laufbahnen.

Das Umkreisen im Dauerlauf ist das zentrale Element der Arbeit The Resilience of the Body von Shaymaa Shoukry, Choreografin und Künstlerin aus Kairo. Ihr Insistieren und Durchhalten schafft die Möglichkeit der gemeinsamen Richtung, es entsteht der Sog des Miteinanders, er formt eine Kollektivität jenseits der Fitnesskultur. Zu Beginn: ein dunkler Raum, Atemgeräusche, eingebettet in die Soundscapes von Mohamed Shafik, die Läuferin keucht eine nicht enden wollende Liste ins Mikrofon, die regelrecht zum Davonlaufen ist. Die Aufzählung von Ungerechtigkeiten, von Gewalt gegen Frauen und Kinder, Rassismus, Genderdiskriminierung, Umweltzerstörung und Zensur, erschöpft sich in einer zirkulären Verwicklung von persönlich-politischen Motiven.

„I hate running … I run for justice, equality, human dignity, freedom of movement … I run for transformation, connection, to fill the darkness with light … I will keep on running until you join me.“ – Exzerpt aus der Live-Performance

Es gibt viele Gründe, durchzuhalten, auch die nächste Generation will leben. Hier geht es nicht um Mitläufer*innentum, sondern um das schiere intergenerationale Rennen ums Überleben – nicht jede*r für sich, sondern für die Gemeinschaft einer Vielfalt von Lebewesen auf diesem Planeten. Vielleicht ist es im Grunde ein Aktivwerden in Solidarität, um sich und den anderen Mut zu machen? Im Format circle dance laden Susanne Songi Griem und Pete Prison IV zu Plötzlich mit Orange in Salz. Wieder ist es die Kreisform, die eine „togetherness of parts“ schafft, die offen bleibt und alle Formen von Teilhabe inkludiert. Das Experiment ist in Kapitel unterteilt, es beginnt mit dem Bewegungsspiel „Stille Post“, diversen Übungen zur Wahrnehmung von Schwerkraft, Dynamik, Kollektivität, Raum und versucht, einen zeitgenössischen Kreistanz mit Objekten im Sinne von Object-Oriented-Ontology zu entwickeln, in dem verschiedene Agencies und eine Praxis der Dezentrierung dann im gemeinsamen Picknick ausklingen.

Mit einer sonic interruption in Form von abstrakten, dichten, kompakten Klangmauern von PLF klingt der Samstag aus. Über flächigen Drones flirren Frequenzen und zerhacken Rhythmen den rasenden Stillstand zwischen Post-Punk, Noise und Improvisation. Freya Edmontes (Stimme), Lukas König (Schlagzeug) und Peter Kutin (Electronics) sind gemeinsam PLF und zeigen, dass sie sowohl die Sound- als auch die performativen Qualitäten ihres Konzerts souverän gestalten.

In Kompositum V / Stubenspiel (Sonntag) von Thomas Hörl und Peter Kozek wird das Logo von Twitter zum überdimensionierten „Zugvogel“ – und die Teilnehmer*innen folgen im schwingenden Reifrock der Prozession, wenngleich das Ziel immer vor uns liegt, wissen wir nicht so genau, wohin es geht. Das Logo des berühmten Vögelchens entstand ausschließlich durch die Verwendung von Kreisen, soll Überschneidungen von Interessen und Ideen symbolisieren und laut Twitter für Freiheit, Hoffnung und unendliche Möglichkeiten stehen.

Das Spüren des Gewichts anarchischer Verantwortung – in Anlehnung an den Begriff „arkhein“[3] – ist eine Suchbewegung, auf die man sich bei diesem Gathering einlassen musste. Sie hat das Potential, die  Handlungsfähigkeit kreativ-kritischer Praktiken zu erhalten und widersetzt sich einer bestimmten Art von Produktivität – dem vorherrschenden, nur allzu gut vorbereiteten, geglätteten Funktionieren polierter Erfolgsgeschichten und Aufführungen. Anarchische Verantwortung ist autonomes Experimentieren das in den Händen jeder*jedes Einzelnen der Gemeinschaft liegt, jenseits von solipsistischem Willen oder Ambition. Sie taucht als Kraft in der ungewohnten Form gleichberechtigter Aufmerksamkeit oder Nichtherrschens auf. Anarchische Verantwortung wird in einer Reihe von künstlerisch-politischen Arbeiten wie partizipatorischen Performances, Installationen oder anderen Arten von Räumen praktiziert, die als deregulierte Zonen der Begegnung für Experimente mit choreografischen Formaten, Praxen der Gastfreundschaft und der Begegnung mit (un-)bekannten Anderen geschaffen werden.

Derrida schreibt: „[…] hospitality is culture itself[…] it is a manner of being there, the manner in which we relate to ourselves and to others, to others as our own or as foreigners, ethics is hospitality; ethics is so thoroughly coextensive with the experience of hospitality.“[4] Es gibt einen Spielraum, sich zwischen den Ethiken zu bewegen, eine Art Choreo-Ethik[5], wie wir uns zueinander, zu den geschaffenen künstlerischen Umgebungen und den angebotenen Erfahrungen verhalten. Es ist jener bewegliche, choreo-ethische Raum, der sich der Dimension des Sozialen widmet, im Miteinander atmet und sich in Kreisläufen als resilienter, hoffnungsvoller, kollektiver Körper zeigt. Dies ist die konsequente, unaufhörliche Arbeit für Solidarität, Transformation, Insistenz und die Praxis des Immer-wieder- und Immer-weiter-Tuns. Das Teilen der Praxen und die Praxis des Teilens liegen im Herzen des kuratorischen Vorschlags von Katalin Erdődi und Philipp Gehmacher. Katalin Erdődi legt in ihrer Arbeit als freie Kuratorin, Dramaturgin und Autorin konsequent den Fokus auf Care, sozial engagierte Kunst, experimentelle Performance und Interventionen im öffentlichen Raum. Sie ist als Aktivistin in Initiativen tätig, die sich mit prekären Arbeitsverhältnissen und Migrationspolitiken auseinandersetzen. Philipp Gehmacher ist Choreograf, Tänzer und bildender Künstler, der den Zwischenraum von Körper und Sprache, Objekt und Skulptur, Black Box und White Cube sowie architektonischem und institutionellem Raum kritisch auslotet. Ihrer kuratorischen Zusammenarbeit liegen Wiederholung und Variation als konzeptionell-kompositorische Ideen zugrunde, die dem Praxisbegriff innewohnen. Über die Tage entfaltet sich in der Halle G – gemächlich und in ruhigem Rhythmus – eine Form von Landscape-Dramaturgy, ein Konzept, auf das Marta Popivoda im listening circle näher eingeht. Es gibt einen Spielraum, sich zwischen künstlerischen Praxen, dramaturgisch-choreografisch-perzeptiven Räumen und Ethiken zu bewegen. Konventionen und Regeln sind nicht festgelegt, sondern verhandelbar. Dieser Spielraum ist der Raum, in dem Choreo-Ethik lebt, arbeitet und atmet und die Dimension des Sozialen situativ neu erfindet. Choreo-ethische Praxis bleibt, insistiert und hört zu.

Marta Popivoda spricht im listening circle über „Feminist Storytelling: Old Stories for New Bodies“. Sie kontextualisiert den transgenerationellen Transfer von Zeitgeschichte aus der Sicht einer Frau, die im antifaschistischen Widerstand aktiv war, hinterfragt Heldenerzählungen und beschreibt ihren Film Landscapes of resistance (2021), in dem die 97-jährige Sonja Vujanović, die einst Partisanin in Serbien war, von ihrem Kampf gegen die Nazi-Besatzung erzählt und darüber spricht, wie sie zur Anführerin des Widerstands im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau wurde. Sonja versteht sich als Teil eines kollektiven Körpers, durchdrungen von der gelebten Erfahrung, dass Widerstand in jeder Situation möglich ist. Dieser künstlerische Film thematisiert den Bezug zwischen Historie und Zeitgenoss*innenschaft, die Relevanz von Atmosphären, Orten, Landschaft, Stille und Langsamkeit. Kunst ist die Mutter des Widerstands. Mit dem Film Landscapes of resistance denken Ana Vujanović (Sonjas Großnichte) und Marta Popivoda über die Politizität des In-der-Welt-Seins nach, fragen, wie eine zeitgenössische Partisan*innenpraxis aussehen kann, und vertiefen sich in mikropolitische, affektive Räume des feministischen Storytelling.

Verlangsamung ermutigt zum Innehalten. Entschleunigung ist eine radikale Zeit-Raum-Praxis, die auch der künstlerischen Arbeit von Claudia Heu zugrunde liegt. Heu berichtet vom Liegen im öffentlichen Raum als Praxis der Widerständigkeit und der Poesie. „Zwischen den Autoreifen und den vielen Schuhen zu liegen hat mir den Blick in den Himmel eröffnet“ – das politische Potenzial des Verweilens in Horizontalität. Die Thermodynamik des losen Denkens weht den Satz von Michael Turinsky „crip essentially means resistance“ näher. Der Choreograf, Performer und Theoretiker meint, dass es einfach sei, sich im Studio am Boden zu bewegen, dass es aber Mut braucht, in der Disco, auf Partys oder im öffentlichen Raum am Boden liegend – in Horizontalität – zu tanzen. Je größer die Druckunterschiede, umso heftiger der aus dieser Luftbewegung resultierende Wind. Eine weitere Bö weht die Erinnerung an das tree ritual (2009) mit Neil Marcus[6] und Petra Kuppers vorbei, beide aktiv im Disability Rights Movement. Die rituelle Performance fand im Rahmen des Symposiums „Earth Matters“ in Eugene, Oregon, statt. Das gemeinsame Um-den-Baum-Liegen-und-Atmen, das Hinspüren zum symbiotischen CO2-Austausch mit einem Baum inmitten des Stadtgebiets, hat eine intensivierte, kollektive Sensibilität für Begegnung von kollektivem Körper, Umwelt und unserer wechselseitigen Interdependenz hervorgebracht.

Mit Claudia Heu und Barbara Kraus geht die Reise weiter in die unmittelbare Umgebung der Halle G und umliegende Räume. In Resonanz zur Songline-Praxis der Aborigines laden die beiden Künstler*innen ein, sich auf Kartierung und Durchquerung einzulassen – das sensitive Schritt-für-Schritt-Vorwärtsgehen in radikaler Langsamkeit, wo Verortung und soziale Verantwortlichkeit sich mit den kontingenten Dimensionen des Lebens verschränken. In Gehen (tournée/practice-in-motion) mit Claudia Heu und Barbara Kraus sind alle aufgefordert, Wegbegleiter*innen zu werden, die Zeit ins Gehen einzuladen, mit der Zeit zu gehen in Innen-, Außen- und Zwischenräumen der Wahrnehmung, in Stille, mit sich und den anderen.
Das Gehen kommt wieder am nächsten Tag mit Barbara Kraus aka Johnny, und sie (plurales Pronomen) performen routiniert Persönlichkeitsfragmente und Exzerpte aus dem poetischen Tagebuch der Künstler*in. Queer, frech, weanerisch, genderfluid, gleichzeitig feinfühlig und berührend wird das teilnehmende Publikum zum (Er-)Liegen und dann zum Singen gebracht.

Begonnen hat die Dreitageserfahrung im sensorial tent mit der kollaborativen Praxis von Anne Juren und Sonia Leimer. Ein großes, schweres Buch liegt aufgeschlagen am Eingang. Es zeigt die Arbeit von Lygia Clark, vermutlich Bezugspunkt und Brücke für die Zusammenarbeit rund um Sensorial Transference Objects, eine Referenz-und Berührungszone von performativer und skulpturaler Arbeit, Überlappung von sensorischen Objekten und Subjekten. Lygia Clark versteht sich als „Initiatorin von Prozessen“[7], für sie erhalten ihre „objetos sensoriais“ Bedeutung, Form und Sinn, indem sie als „lebende Organismen“ mit dem Körper der*des Betrachter*in in Beziehung treten. Im sorgfältig gestalteten Raum – dem sensorial tent – tauchen wir mit Minimikroskopen ein in die Welt der Risse, werden in die Tiefe gesogen und tasten uns an den Oberflächen der Objekte von Sonia Leimer entlang. Sonia Leimer hat die Überreste der Ausstellungsobjekte für diese gemeinsame Praxis zusammengestellt, eine Art Recycling von künstlerischem Material, das aussortiert wurde. Anne Juren stellt somatische Praxis, die methodisch von Feldenkrais-Arbeit und ihren Studien Fantasmical Anatomies geprägt ist, in Verbindung mit den künstlerischen Objekten vor. Die po(i)etische Form, das Experiment und die haptische Dimension ebenso wie das Berühren durch Worte gehören zu ihrem kompositorischen Werkzeug. Sie stellt die Frage in den Raum, ob wir mit dem Begriff des Fulcrum vertraut sind. Wie eine sanfte Brise durchflutet die Erinnerung an Richard Serras große Stahlplastiken das sensorial tent. Serras Arbeiten sind weltweit im öffentlichen Raum und in großen Museen zu sehen. Fulcrum (1987) bedeutet Drehpunkt, Stützpunkt und ist eine frei stehende Skulptur an der Liverpool Street Station in London. Als ich während der globalen Finanz-und Wirtschaftskrise 2008/2009 in London lebte, bin ich täglich an ihr vorbeigekommen. Eine Art Schutzraum, Zufluchtsort oder eine Kultstätte, die einlädt, hineinzugehen und in den Himmel zu schauen. Oft habe ich dort gerastet, um die Geschwindigkeit des urbanen Pulses zu drosseln. Anatomisch gesehen bezeichnet Fulcrum eine Struktur, die als Scharnier oder Stützpunkt dient. Die Definition eines Fulcrums ist ein Drehpunkt, um den sich ein Hebel bewegt, oder etwas, das eine zentrale Rolle in einer Situation oder Aktivität spielt. Wir spüren hin zum vermeintlichen Zentrum des Objekts, das wir mit den Händen ertasten. Die diffraktive Wahrnehmung verschiebt sich mit jeder noch so kleinen Lageveränderung, sobald wir in die mikroskopische Welt vordringen, dort den Kratern, Vertiefungen, Texturen, Furchen und Rissen folgen.

Auch Satu Herrala stimmt die Partizipierenden auf die genaue Eigenwahrnehmung des Körpers ein, die Relationen mit der Umwelt, wie wir uns in Resonanz zueinander befinden. Sie fragt, wie Kollektivität im Zusammensein entsteht und was ihre politisch-ästhetische Kraft sein kann. Im listening circle thematisiert Satu Herrala im Format der Lesung und des Gesprächs den Weg From resonance into collective action. Alles beginnt mit der Suche nach der Mitte des Seins, der Wahrnehmung im Mikrobereich, um die kollektive Kraft zu finden, und der Nutzbarmachung des Gemeinschaftskörpers in politischen Versammlungen, Protesten, Demonstrationen. Satu Herrala rekurriert auf Baruch Spinozas Ethik, Karen Barads Intra-Aktion und Astrida Neimanis’ Hydrofeminismus, um Denkbewegungen rund um Ethico-Onto-Epistemologie nachzuzeichnen. In ihrer Arbeit mit Sámi, dem finnougrischsprachigen Volk, das in der Region Sápmi lebt, wird körperlich-intuitives Wissen wichtig, und sie stellt sich die Grundsatzfrage, was Erkenntnis bedeutet und welchem Wissen sie vertraut, wie die Verbindungen zwischen Landschaft und Körper, uraltem Wissen und intuitivem Bauchgefühl sich entwickeln, auf welche Weise sie in und durch uns fließen. Satu Herrala spricht über Trauma, „settled and unsettled bodies“ (in sich ruhende und unruhige Körper) und die Wichtigkeit auch kleiner Verschiebungen und Erweiterungen des persönlichen Möglichkeitsraums. Die Revolution der einfachen „embodied action“ eines kollektiven Körpers. Sie ist überzeugt, dass Kunst als Form der Veränderung die Verpflichtung hat, in das Werden der Welt einzugreifen.

„Onto-epistem-ology – the study of practices of knowing in being – is probably a better way to think about the kind of understandings that we need to come to terms with how specific intra-actions matter. Or, for that matter, what we need is something like an ethico-onto-epistem-ology – an appreciation of the intertwining of ethics, knowing, and being […] because the becoming of the world is a deeply ethical matter.“[8]

In Reminiszenz an Derrida, aber in retrograder Umkehrung bleibt die geteilte Verantwortung für eine ethische Praxis, die insistiert: Hospitalität ist Choreo-Ethik, eine im Chorus verhandelte Ethik, die stets situativ entsteht. Das teil-weise Miteinander versucht eine weise Form des Auseinander- und Zusammenfallens, eine Praxis des Teilens und des Wagnisses, es sucht die Teilnahme an künstlerischen Praktiken der Fürsorge, der Zuwendung, der Anteilnahme. Das kuratorische Experiment von Katalin Erdődi und Philipp Gehmacher baut auf die Weisheit der Teile des MiteinAnders und kommt in radikaler Selbstorganisation und an-archischer Verantwortung durch Mitwirkung (participation), Hingabe und Verbindlichkeit (commitment) in Verbundenheit (solidarity) zusammen – together the parts.

 

Mariella Greil ist Künstlerin und Forscherin, die sich mit zeitgenössischer Performance beschäftigt, insbesondere mit deren Verzweigungen ins Choreografische und Ethische. Seit Oktober 2022 ist sie Senior Artist am Angewandte Performance Laboratory in Wien. Zusammen mit Vera Sander ist sie Mitherausgeberin des Buches (per)forming feedback (2016). Gemeinsam mit Emma Cocker und Nikolaus Gansterer wurde Choreo-graphic Figures: Deviations from the Line (2017), ein Hybrid aus Künstler*innenbuch und Forschungskompendium, veröffentlicht. Ihre Monografie Being in Contact: Encountering a Bare Body ist 2021 im De Gruyter Verlag erschienen.

 

 

[1] Statement im Interview mit Susanna Niedermayr im Rahmen des musikprotokoll 2020.
[2] Ambar Chakravarty, The creative brain–revisiting concepts. In: Med Hypotheses. 2010 Mar; 74(3):606-12. doi: 10.1016/j.mehy.2009.10.014.
[3] Im Griechischen ist árkhein aktiver Infinitiv im Präsens und bedeutet sowohl Vorhut zu sein, als auch voranzugehen oder zu lenken.
[4] Jacques Derrida, On Cosmopolitanism and Forgiveness, London 2001, S. 16f., Hervorhebung im Original.
[5] Lateinisch „chorēa“ bedeutet Kreistanz, zirkuläre Bewegung und betont – in der Zusammenziehung mit Ethik – Parität und wechselseitige Bezogenheit; Mariella Greil, Being in Contact: Encountering a Bare Body, Berlin 2021.
[6] Neil Marcus, Schauspieler und Dramatiker, hat zur Entwicklung von Disability Culture beigetragen und das Denken über Behinderung neu gestaltet. Er verstarb 2021.
[7] Zitat aus dem Film O mundo de Lygia Clark von Eduardo Clark, 1973.
[8] Karen Barad, Meeting the universe halfway – quantum physics and the entanglement of matter and meaning, Durham & London, 2007, S. 185.

 

 
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