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Frank Jödicke über Origins von Oleg Soulimenko

Eigenständig gegenständig

 

Eigenständig gegenständig

Der russisch-österreichische Choreograf Oleg Soulimenko inszeniert mit Origins einen Abend, der den Dingen auf den Grund geht. Alltägliche Gegenstände entfalten auf der zunächst leeren und fast vollständig dunklen Bühne ein Eigenleben, das den Akteur*innen ihre Handlungen vorgibt. Die Lehren sind dabei letztlich – gewollt oder ungewollt – existenziell.

Im Grunde sei es seine Unverschämtheit, meinte Kenneth Patchen, wenn Menschen von ihren Erinnerungen sprechen. Unsere Erinnerungen sind gar nicht unsere. Auch kann niemand die Geschichte ihres oder seines Lebens erzählen. Mehr oder minder wiederholt man die einmal gehörten Formulierungen. Wie man ein Leben halt eben so beschreibt. Bei den Dingen wird dies besonders deutlich, denn zu den meisten gibt es nichts zu sagen. Sicherlich kann jemand ein sentimentales oder sogar ein tiefes innerliches Empfinden gegenüber einem Topf oder einem Türknauf haben, weil an ihm beispielsweise Erinnerungen aus der Kindheit haften. Zu denen kann ein anderer Mensch aber schwer etwas sagen. Hingewiesen auf die Gegenstände, können sie nur entgegnen: „Nun ja, ein Knauf.“ Oder: „Aha, ein Topf.“ Aber was für ein Gefühl soll man gegenüber einem Topf haben?

So betrachtet stehen die Menschen einer kalten und bedeutungslosen Welt gegenüber, ohne jede Individualität und Einzigartigkeit. Ein Topf ist wie der andere. Aber genau auf die Einzigartigkeit des besonderen Dings zielte Patchens poetisches Streben. Er glaubte allerdings nicht, dass dies jemals durch die Predigt menschlicher Individualität gelingen könnte, die dann den Dingen wiederum ihre individuelle Bedeutung verleiht. Dies wäre nichts anderes als eine fantasievolle Zuschreibung, die das Ding innerlich nicht berührt. Er wollte es lieber umgekehrt sehen: Die Dinge selbst haben ihre eigenen Gedanken und Erinnerungen. Leider werden diese von den Menschen kaum erfasst. Von leichtgläubigen und herzensoffenen Kindern allerdings schon. Sie erlauschen die Gedanken des eingedellten Topfs mit dem schartigen Rand, den die Großmutter auf den alten Herd hievt. Auch sehen die Kinder die Gesichter in den kleinen Elfenbeinknäufen des großmütterlichen Küchenschranks. Zum Fürchten manche, zum Spaßen die meisten. Die Knäufe beobachten, was das Zeug hält, und werden so zu sorgsamen Chronisten der Hausarbeit. Die Kinder fühlen mit dem Topf, wenn er nachher in den dunklen Schrank der Waschküche geschoben wird und manchmal lange warten muss, bis er wieder hervorgezogen wird. Solche Gedanken der Dinge können sie nur dann erfassen, wenn diese bereits von den Gegenständen gedacht worden sind. Diese etwas verrückte Weltsicht teilen nur wenige Denker*innen. Neben dem Dichter Patchen vielleicht noch Charles Sanders Peirce, möglicherweise in Teilen Platon. Ihr beachtlicher Vorteil liegt darin, dass diese Sicht einzig schlüssig erklären kann, weshalb es Menschen überhaupt gelingt, Dinge und Gedanken zu verbinden: eben weil sich die Dinge selbst denken.

Auftritt der Geister

Das Publikum wird in den vollständig leeren Saal geführt und reiht sich – einem scheinbar eindeutigen Impuls folgend – im Kreis, die Rücken nah an der mit Vorhängen verhüllten Wand und den Blick in die leere Mitte gerichtet. Plötzlich fällt ein einzelner Schokokuss von der Decke, und das Licht geht aus. Zwei Mitarbeiter*innen des Theaters tragen auf Stöcke montierte schwarze Schilder, die vor die leuchtenden Kästen mit den Notausgangstafeln gehalten werden. Somit ist es jetzt fast vollständig dunkel, und wie selbstverständlich legt sich ein Schweigen über das Publikum. Laut stapfend erscheint eine erste Gestalt. Sie trägt ein Licht, durch das sie vage zu erahnen ist. Allerdings ist sie derart mit eng anliegendem schwarzem Stoff umhüllt, dass ihre natürlichen menschlichen Formen unkenntlich sind. Auch ihr Kopf ist der einer gesichtslosen schwarzen Puppe. Die Gestalt beginnt, Verrichtungen zu tätigen, die ihr schwerfallen. Bald kommt eine zweite, graue Figur hinzu, die anstelle des Gesichts ein breites Rohr hat, das gekrümmt wie ein viel zu dicker Tapirrüssel zu Boden hängt. Auch diese Figur ist völlig mit Stoff umhüllt. Es erscheint noch eine dritte Gestalt, mit einem ausladenden, fragilen Kopfschmuck, der ebenso keinerlei Blick auf Gesicht und Mienenspiel erlaubt. Im Grunde ist nicht vollkommen sicher, ob sich unter den aufwendigen Kostümen überhaupt Menschen befinden. Die Figuren sind allesamt gespenstisch. Ihre assoziationsreichen Umhänge erscheinen wohlerwogen uneindeutig. Sieht der graue Umhang wie eine Burka aus? Ein wenig vielleicht. Erscheint die schwarze Figur wie ein Kendō-Kämpfer? Ein bisschen. Letztlich sind die Erscheinungen so fantastisch, dass sie am ehesten „Chihiros Reise ins Zauberland“ zu entstammen scheinen.

Die drei Figuren machen sich nun an verschiedenen Dingen zu schaffen, die sie aufwendig und mit großen Mühen hervorziehen. Da sie offenbar das Publikum nur sehr eingeschränkt sehen können, ist dieses gezwungen, den Verrichtungen der Vermummten aus dem Weg zu gehen. Die Linie zwischen Spielhandlung und Publikumsreaktion verschwimmt. Die Anwesenden können nicht sicher sagen, was inszenierte Handlung ist und was Interaktion, die der bloßen physischen Not geschuldet ist. Wenn etwa eine Gestalt einen langen Gartenschlauch hinter sich herzieht, der sich um auf dem Boden liegende Gegenstände schlingt und dort verhakt. Die drei Figuren spielen ihre Handlungen also nicht, sondern kämpfen ganz untheatralisch real mit den eigenständig agierenden Gegenständen. Langsam dämmert dem Publikum, dass in diesem Spiel die hereingeschleiften Dinge die eigentlichen Hauptakteur*innen sind. Unaufhörlich nesteln die Gestalten an den Gegenständen, gruppieren sie neu und versuchen, sie zu größeren Objekten zusammenzusetzen. Die Handlung der Performance bezieht ihre Spannung daraus, dass die Erledigung der Aufgaben, die sich die drei Gestalten vornehmen, schwierig ist und ständig an der sogenannten „Tücke des Objekts“ zu scheitern droht. Die drei Beckett-Figuren ertragen dies mit Gleichmut. Sie haben akzeptiert, dass die Dinge die Akteur*innen sind, und unterwerfen sich deren Anforderungen.

Singende und tanzende Objekte

Die herbeigezogenen Objekte sind ausnahmslos alltäglich. Die Gestalt mit dem Rüssel hatte Kissen herbeigeholt, die in jene luftentleerten Packungen eingeschweißt waren, die Hausfrauen und -männern das Leben erleichtern sollen, indem Kleider in ihnen komprimiert und leichter verstaubar sind. Die graue Gestalt lässt zischend Luft in die Packung strömen, und ganz von selbst breiten sich die Kissen in ihren bekannten Formen aus. Immer wenn sich die Gegenstände selbst rühren, halten die Figuren inne und schauen ihnen bei ihren Veränderungen zu. Weitere Küchenutensilien, etwa eine große Keksdose, haben ihren Auftritt. Materialien aus dem Baumarkt kommen hinzu: Schläuche, Kabel, PVC-Rohre oder das Blatt einer Kreissäge. Die drei Gestalten haben viel zu arbeiten. Die eine scheint eine Vorliebe für Rundes zu haben, sie nimmt ihre Sammlung von Tellern, Schüsseln, Luftfiltern und legt aus ihnen einen Kreis. Dann versucht sie behände, die Objekte zum Kreiseln zu bringen, was diese je nach Material eine gewisse Zeit lang tun und dabei den für sie typischen Sound machen. Tatsächlich sind es jetzt die Gegenstände, die hier auf der Bühne tanzen und aus ihren Klängen die Musik erzeugen.

Mittlerweile ist eine Frau zu den Gestalten getreten. Sie ist zwar schwarz gekleidet, aber in konventioneller Form. Auch ist ihr Gesicht unverhüllt. Zuvor hatte sie sich im Publikum verborgen und hin und wieder einen improvisierten Text gesprochen. Jetzt schleift aber auch sie ein schweres Packerl hinter sich her. Sie entleert den Sack, und zum Vorschein kommt Soundequipment: Mischpult, Kabel, Effektgeräte. Ebenso eilig wie die Gestalten beginnt sie, alles zu verstöpseln. Die Technik der Gerätschaften gibt ihr dabei unzweifelhafte Vorgaben. Während sich die Gestalten im Basteln absurder Objektassemblagen verlieren, bei denen sie hier und da etwas anzünden, Flüssigkeiten zusammengießen oder Platten schwingen lassen, muss die Frau alles „richtig“ ineinanderstecken, damit es funktioniert. Endlich gelingt es ihr, und sie erzeugt Loops der eben zuvor aufgenommenen Geräusche. Jetzt besteht kein Zweifel mehr, die Gegenstände haben eine Stimme, und sie musizieren miteinander. Auch eine der Figuren hat sich mithilfe eines langen Kabels Strom besorgt, und viele ihrer Objekte beginnen, von Elektromotoren getrieben, sich zu bewegen. Die bisher durchexerzierte Magie der Fernwirkungen, die erzielt wurde, indem die Gestalt an Kabeln, Schläuchen und Drähten zog, steigert sich nochmals durch die Autonomie der Elektromotoren. Eine kleine Spielzeugeisenbahn fährt tutend durch den Saal und verschwindet dort, wo es ihr einfällt, hinter einem der Vorhänge. Die Musikerin spielt ein langsames Black-Sabbath-Cover, und an dieser Stelle ist die Performance überaus stimmungsvoll.

Letztliches Scheitern

Einen Willen scheinen die Dinge also zu haben, sonst ließe sich ihnen leichter beikommen, und sie würden die drei Gestalten nicht so triezen. Weil Oleg Soulimenko seine Performance stark auf die Handlungen der Objekte selbst fokussiert, dürfen diese etwas von sich verraten. In ihrem natürlichen und bekannten Umfeld, in dem Dinge sich unter Dinge mischen, bleiben sie unsichtbar. Auch verschwinden sie neben den Menschen, weil wir es gewohnt sind, Dinge als Werkzeuge und Befehlsempfänger zu sehen. Deswegen war auch die zweite „Operation“ Soulimenkos wichtig. Zunächst musste die Bühne verdunkelt und komplett von Dingen befreit sein, und dann mussten in einem zweiten Schritt die Menschen als Menschen verschwinden und nur noch als umhüllte Gestalten auftreten. Dadurch konnten die hervorgezogenen Dinge erst nackt und klar erscheinen und ihre eigenwillige Gegenwart unter Beweis stellen, die belegt, dass sie ihren Schöpfer*innen und Namensgeber*innen nicht unterworfen sind. Nein, vielmehr ist es umgekehrt, und es sind die Menschen, die von den Gegenständen zu Empfänger*innen ihrer dinglichen Botschaften gemacht wurden. Kenneth Patchen hätte diese Umkehrung, die aufräumt mit dem Vorurteil, dass die Gegenstände nichts zu erzählen hätten, vermutlich behagt.

Nur soll niemand annehmen, die Gegenstände meinten es gut mit den Menschen. Das wäre Kitsch. Die drei Gestalten haben viel zu schaffen mit ihnen. Am Ende der Performance versuchen sie, ein wildes, mit Lichtern versetztes Knäuel unter der Saaldecke an einem Seil aufzuhängen. Sie arbeiten gemeinsam an diesem Ziel und scheitern letztlich. Das große Objekt, das wie ein Zentralgestirn in der Mitte des Raums hängen sollte, bleibt als ein klumpiges Bündel auf dem Boden liegen. Zu diesem Zeitpunkt fühlt man bereits mit den Gestalten mit, und ihr Scheitern hat Züge des Tragischen. Aufgrund des besonderen Versuchsaufbaus der Performance ist schwer zu sagen, ob dieses Scheitern geplant war oder ob es sich ergab. Die existenzielle Lehre ist die gleiche. Die Dinge sind eben strenge Herrscher*innen. Beim Verlassen der Halle kommt das Publikum an einem letzten, wild surrenden Objekt vorbei. Der Motor eines ehemaligen Barttrimmers (?) bringt eine Plastikrute und zwei Holzkügelchen zum Vibrieren. Wie ein eigenwillig herumwackelndes Insekt liegt der Gegenstand da und macht sich offenbar seine eigenen Gedanken.

 

Frank Jödicke ist Autor und Journalist. Er schreibt für verschiedene österreichische und internationale Zeitschriften und Medienportale, beispielsweise Telepolis, Der Augustin, DAVID, untergrundblättle oder MALMOE. Aktuell fungiert er als Chefredakteur des Magazins für Musikkultur skug und engagiert sich bei BAM, Bündnis für alternative Medien.

 

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