Ein relationales Netzwerk des Selbst
„What I am suggesting is that it is not just that this or that body is bound up in a network of relations, but that the body […] is defined by the relations that makes its own life and action possible.“[1]
Judith Butlers Konzeption von Vulnerabilität kann, so der Wiener Philosoph Florian Pistrol, als das Bestreben ausgelegt werden, eine Vorstellung von Körperlichkeit jenseits eines phänomenologischen Leiblichkeitsverständnisses zu entwerfen. Damit einher geht die Absetzung von einem Subjektbegriff im Sinne einer für sich bestehenden, souveränen Entität. Und die prinzipielle, unausweichliche Offenheit des Selbst dafür, von Anderen und Anderem affiziert zu werden. Butlers Begriff von Vulnerabilität, so Pistrol weiter, verdeutliche, dass das Selbst von der Akzeptanz und der Bestätigung Anderer abhängt und in vielfacher Weise der Unterstützung bedarf. Um jedoch überhaupt als Subjekt in Erscheinung treten zu können, das wert ist, unterstützt und geschützt zu werden, ist das Individuum auf Anerkennung angewiesen.[2]
Mit diesem Einstieg fallen Schlüsselbegriffe, die für eine Lesart der neuen Arbeit von Ian Kaler produktiv werden können: Vulnerabilität, Körperlichkeit, Anerkennung, das relationale Netzwerk des Selbst. Kaler, so meine ich, stellt Assemblagen für eine Konturierung dieser Begriffe aus baulichen Versatzstücken autofiktionaler Assoziationen her, die intertextuell (aus vergangenen Performances) und medial (Blitzlichter kollektiv erinnerter Filmgeschichte) verfasst scheinen: die Mauer, die Leitplanke, die Haltestelle, die Reitarena und das Hotelzimmer. Performativ werden diese titelgebenden Orte zu Szenen eines Films, der alle Filme sein könnte, sich aber doch zu einem ganz einmaligen, im Moment hervorgebrachten Medium verdichtet. Die Materialität der Bauten wirkt in der Berührung durch den Performer stark stilisiert: New Materialism. In Beziehung gesetzt werden diese Versatzstücke durch den Sound, eine Verdichtung aus Kalers Stimme und komplexen Ton- und Musikwerken; das Voiceover der erzählten Geschichte – und ja, es ist eine Geschichte – blendet gänzlich in einen wunderschönen, berührenden Klangkosmos ein, in eine Welt der Töne und Worte und Beats und Laute und Sounds. Und die Erzählung wird in Übertiteln gezeigt, die Drehbuchanweisungen inklusive: Mit der Schrift gewinnt die Stimme an Autorität, und die Erzählung wird medial. Sehen wir dann doch einen Film, enacted?
Verletzlichkeit wird zum Thema durch die Präsenz von Ian Kalers Körper, eine Körperlichkeit, die das Leibliche gänzlich zu überschreiben imstande ist. Der Körper fesselt in der langsamen Bewegungsentwicklung. Wir erleben, wie aus dem Körperstillbild heraus eine performative Kraft entsteht, die immer neue Volten schlägt: schlendernd, beiläufig, hohe Beherrschung und Reaktionen, zwei Szenen als Tanzsolos zu aus der Vergangenheit in die Gegenwart geholten Beats (Grandmaster Flash?). Das ist jene Dimension, die durch ihre Bewegungen, durch das Stillhalten, im Zeigen der Verfasstheit und der Beherrschung wabernde Bezüge zum Text herstellen kann. Affiziert wird der Körper durch den Text, den er mal verkörpert, mal in zuhörender Pose aufzunehmen scheint und dann auch bricht, durch zeitliche Verschiebungen zwischen Text und Tun. Dadurch figuriert der Körper als Protagonist einer erzählten Geschichte, er stellt sich als erzähltes, medialisiertes Individuum dar (und aus): „The Rider“. Doch mehr und mehr weist der Körper auf seine eigene Verletzlichkeit hin, auf seinen Status als Transkörper, der von der Individualität des „he“ zur Kollektivität des „they“ wächst: „He’s a survivor. They all are. Until they aren’t.“
Der Schlusssatz der Erzählung, eingeschoben vor den Epilog, der uns an den Ausgangspunkt zurückbringt, weist weit hinaus aus der vermeintlichen Coziness der präzise gesetzten Bilder: Ähnlich wie in Kalers jüngster Filmarbeit The Growing Edge dürfen wir miterleben, wie ein perfekter Körper das prekäre Selbst beherbergt, ein Selbst, das immer erst der Anerkennung bedarf, um sich äußern, um sich ver-äußern zu können. Ein Selbst, das uns voller Schmerz an seine Verletzlichkeit erinnert und doch gleichzeitig in ruhiger Gewissheit über die Relationalität des Menschseins – selbstverständlich im Gleichklang mit den Pferden – zu lächeln scheint.
[1] Judith Butler, „Bodily Vulnerability, Coalitions, and Street Politics“, in: Joana Sabadell-Nieto / Marta Segarra (Hg.), Differences in Common: Gender, Vulnerability and Community (Critical Studies, 37), Amsterdam 2014, S. 99–119. S. 103.
[2] Florian Pistrol, „Vulnerabilität. Erläuterungen zu einem Schlüsselbegriff im Denken Judith Butlers“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Bd. 3, Nr. 1, 2016, S. 233–272.
Andrea B. Braidt ist Dozentin für Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Theorien der Erzählperspektive in Film und Medien, Epistemologien der Kunst (künstlerische Forschung), intersektionale Queer-feministische Theoriebildung sowie Geschichte und Ästhetik des Queer Cinema. Aktuell leitet sie (gemeinsam mit Nicole Kandioler-Biet) das Forschungsprojekt „Queer Cinema Austria 1906-2026“ (qca.univie.ac.at)