ENDOVILLE Ein Bericht in Manier des Agenten Dale B. Cooper[1]
18. Jänner 2019, 10:46
Diane, soeben bekomme ich mit der elektronischen Post eine vertrauliche Nachricht:
Lieber Jack,
ich hoffe, es geht dir gut!!!
Nächste Woche ist ja nun David Wampach bei uns, und für dich ist ein kostenloses Ticket für den Donnerstag hinterlegt. Möchtest du auch eine Begleitkarte um 10 Euro haben?
Anbei und hier unter den Links habe ich noch Infos v. a. zum „Endoticism“, auf den sich Wampach bezieht …
Alles Liebe!
Bibliothek & TQW Magazin
Christina Gillinger
18. Jänner 2019, 23:43
Unter einem der beiden Links finde ich die Website von TIER, das Akronym für The Institute for Endotic Research. Laut Eigendarstellung widmet sich das Institut der Erforschung von Erzeugungs- und Darstellungsformen der Endotik – ein Antonym zu Exotik. Der französische Schriftsteller Georges Perec nutzte es als konzeptionelles Werkzeug, um sich dem Alltag in seiner unmittelbaren Umgebung zu nähern. Mit dieser Idee schlug er vor, die Faszination des Erforschens zu bewahren und gleichzeitig die Figur des Anderen zu vermeiden. Namen sind Spielmarken, die in den Schlitz des Lebens fallen. Sie sind Einsätze.
ENDO von David Wampach wird nun mein nächster Einsatz werden, und welchen Namen werde ich dafür verwenden? Dale B. Cooper? Meinen eigenen? Oder?
Diane, wie Groucho Marx gesagt hat: „Harpo, du redest zu viel.“
Gute Nacht, Diane.
19. Jänner 2019, 10:28
Diane, ich bin unterwegs nach Horn. Mein Vater ist krank. Ich melde mich bei Ihnen, sobald ich seinen Zustand besser einschätzen kann.
20. Jänner 2019, 02:01
Sätze aus César Airas Essay „Cecil Taylor“ geben mir für vier Stunden Nachtruhe in Horn: „Augen, die ein für alle Mal schließen, immer und überall. Frieden. Trotzdem gibt es eine unkontrollierte Bewegung, die wahrnehmbarer ist, als wir uns erhofft haben könnten, und die bei anderen Angst auslöst und das Modell unserer eigenen unmöglichen Angst darstellt. Das nennt man auch Kunst.“
Dem füge ich nichts hinzu, Diane.
20. Jänner 2019, 08:11
Diane, melde mich trotz Ungewissheit meinen Vater betreffend bei Ihnen.
In einem Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 2014 verlangt der Journalist anlässlich einer Ausstellung der japanischen Nachkriegskünstlergruppe Gutai im Guggenheim Museum: Kunstgeschichte? Bitte umschreiben!
Näheres zur Künstler*innengruppe lege ich Ihnen bei, Diane.
1954 war Jirō Yoshihara an der Gründung dieser Gesellschaft für konkrete Kunst beteiligt. Bis 1972 erprobten insgesamt 59 Künstler*innen unter dem Schlagwort Gutai von den ersten festivalartigen Ausstellungen an, wie man mit neuen Formen der Kunst die Grenzen zwischen Kunst und Leben aufbrechen könnte. Der Körper war wesentlich, aber der Körper hatte keine Priorität gegenüber den Materialien. Er wurde eher als Mitarbeiter des Materials gesehen.
Diane, ich hatte in den 1990er-Jahren in der Wiener freien Tanz- und Performanceszene Berührung mit ähnlichen Ideen und suche diesbezüglich das dietheater-Programm mit der Ankündigung der Lux Flux-Performance INFRAMINCE für imagetanz 99 – Groteske, Ironie und Körperwitz. Kann es aber in den Schubladen des Büros nicht finden. Ein gelber Zettel mit folgender Notiz wird meine einzige Spur:
Inframince (prominent gesetzt 1945 im amerikanischen Magazin „View“) ist für Marcel Duchamp, wenn der Tabakrauch auch nach dem Mund riecht, der ihn ausbläst. Dann vermählen sich die zwei Gerüche durch Inframince. „Das Geräusch, das eine Samthose beim Gehen macht, wenn ihre beiden Beine aneinander reiben; das Geschehen des Malens auf Glas, gesehen von der unbemalten Seite; das Gefühl der Haut in der Sanftung beim Tanzen Schläfe an Schläfe; der Gedanke, der entsteht, wenn das Zusammenspiel der Sinne in den Sinn kommt; die Wärme eines Sitzes (den man gerade verlassen hat)“, ist Inframince.
21. Jänner 2019, 19:07
Diane, bereits in meiner Notiz am 10. Jänner 1977 bemerkte ich Ihnen gegenüber, dass ich die Sprachaufzeichnungen immer an Sie richte, sogar wenn klar ist, dass ich mit mir selbst rede. Das Wissen, dass jemand mit Ihrem Scharfsinn hinter mir steht, ist beruhigend.
22. Jänner 2019, 13:39
Christina schickt mir erneut einen Link. Er leitet mich zum TQW-Artist-Video von David Wampach. Ich bin überaus glücklich, mich damit beschäftigen zu dürfen, Diane.
David Wampach choreografierte ENDO gemeinsam mit Tamar Shelef für Montpellier Danse als eine weitere Momentaufnahme der Geschichte, diesmal aus der Sicht des japanischen Avantgardepoeten und Filmemachers Shūji Terayama, um mit den Worten des Schriftstellers Georges Perec zu forschen: „Untersuchen Sie, was wirklich von innen kommt und was wir bisher übersehen haben […] zu untersuchen, was uns nicht mehr zu überraschen scheint […] nicht mehr exotisch, sondern endotisch.“
22. Jänner 2019, 17:03
Diane! Und erotisch. Shūji Terayama drehte 1981 mit Isabelle Illiers und Klaus Kinski den französisch-japanischen Spielfilm „Die Früchte der Leidenschaft“ nach Dominique Aurys Roman „Die Geschichte der O“.
23. Jänner 2019, 14:11
Habe Bedenken wegen meiner Herangehensweise bezüglich meines morgigen Einsatzes in der Halle G im Wiener Museumsquartier. Und wieder hilft mir César Airas Essay, in der Spur zu bleiben: „Wer würde sich rühmen, zu wissen, was ein Schrott ist, und ihn vom Gegenteil unterscheiden zu können? Zumindest niemand, der schreibt.“ Oder, Diane?
24. Jänner 2019, 10:40
Diane, der tagebuchartig filmende und doch zeitlose Künstler Jonas Mekas ist gestern 96-jährig in New York City gestorben. Ich erinnere mich an seine intime Coolness, wie in seiner Aussage aus den 1980er-Jahren: Solange noch jemand in der Lower East Side mit einer Super-8-Kamera durch die Straßen streift, lebt der Geist des Experimentalfilms. Denke auch an den Tänzer Daniel Lepkoff und die Fotos seiner Mutter Rebecca aus den 1940er-/1950er-Jahren in dieser damals armen Einwanderergegend von Manhattan.
24. Jänner 2019, 15:27
Ich will versuchen, die Ereignisse des heutigen Abends mit ENDO durch Schreiben zu berühren.
24. Jänner 2019, 23:24
So in die Irre geführt durch meine bisherigen Erkundungen! Ich hätte mich mit den Zirkuskünsten, dem Varieté und den Nachtklubs in Filmen der 1960er-/1970er-Jahre beschäftigen müssen. Also mit den eigentlich zeitlosen Vergnügungen einer städtischen Gemeinschaft.
Das kann ich Ihnen berichten, Diane. Knapp vor Beginn ein Dialog hinter mir im Publikum: „Das Zwerchfell drückt gegen dein Herz, und du bist tot.“ „Ja. Es gibt so viele schreckliche Arten zu sterben.“ Danach ging es in dieser ironischen Art auch auf der Bühne weiter. Tamar Shelef, wie ein weiblicher Vogeltanzmensch mit schwarzer knöchellanger Kochschürze vorm nackten Körper, allein. Dann erscheint David Wampach, der männliche Protagonist, allein. Er hüpft als vermummter Boxer im roten übergroßen Badetuch ein paar Runden im minimalistischen Bühnenbild. Becketts Theaterarbeit fällt mir nicht ein. Anderen schon. Was kann ich noch dazu sagen? Das Bühnenbild ist ein weißes Eck mit weißer verbindender Grundfläche. Ja, nun fällt es mir ein, Diane, furchtbar komisch war der schwarze Handschuh, der beabsichtigt – als Euter beinahe – zwischen den Beinen des Boxers schaukelte. Und im folgenden Zwischenreich fragte ich mich, ob Adam und Eva ebensolches Vergnügen bei der Vorbereitung der Vertreibung aus dem Paradies hatten. Erinnerungen werden auch wach, als das Künstler*innenpaar seine mit Farbe markierten Körperformen gegen die beiden Wände der Ecke abdrückt. 2002 zeigte mir Harald Szeemann in seiner Fabbrica Rosa den italienischen Exploitation-Film „Mondo Cane“ (1962), der auch eine filmische Dokumentation der bekannten Yves-Klein-Performance „ANT 82“ enthält. Harald erzählte, dass Yves ganz und gar nicht glücklich darüber war, dass er fälschlich als tschechoslowakischer Künstler vorgestellt wurde und seine Performance in eine Pseudodokumentation über die Welt der bizarren menschlichen Taten eingebettet war. Das ist eine wichtige Frage für mich. Für wen performen? Menschen und Dinge performen für Menschen. Pataphysischer wäre es, würden Farben für Farben und Düfte performen. Im Falle von ENDO dachte ich mir für einen Moment, dass wir – das Publikum – auf der Tribüne sitzend mitperformen. Ich könnte noch lange so weiterschreiben und den genialen Giftgasschutzanzug der weiblichen Figur ins Spiel bringen. Und den gekonnten Schustersitz der männlichen Figur in die aufgelegte rote Farbpfütze. Und die Verwandlung der beiden in Superheroes durch Actionpainting. Und die Erschöpfung einer Tanzmusik. Und die schamlose körperliche Verausgabung. Tadellos! Das war „a grand funferall“, wie der irische Schriftsteller James Joyce in seinem Roman „Finnegans Wake“ formulierte.
Gute Nacht, Diane.
JACK HAUSER 1958 in Horn geboren, studierte nach seiner Arbeit als Chemiker von 1983 bis 1986 elektroakustische Musik in Wien. Erzklapperatist & Ex.Filmemacher mit Super-8-Film-Sammlung Banditengesänge (1986 – 2009). Seit 1989 schreibt Jack Hauser gemeinsam mit David Ender experimentelle Abenteuerromane als Liebesromane für alle und keinen. 1994 Gründung der Performancebande Lux Flux mit Inge Kaindlstorfer & David Ender. 2003 beginnt die Zusammenarbeit mit Milli Bitterli. 2014 / 15 entwickelt er gemeinsam mit Lisa Hinterreithner die Performancereihe The Call of Things. Seit 2005 zahlreiche gemeinsame Werke mit Sabina Holzer (www.cattravelsnotalone.at). Seit 1999 gestaltet er das fantômastische Vehikel „Wohnung Miryam van Doren“.
[1] Agent Dale B. Cooper ist eine Figur aus David Lynchs TV-Serie Twin Peaks (1990/91; 2017).
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David Wampach über ENDO
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Schwerpunkt
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