Boca de Ferro
Musikalisch ist der Bundesstaat Pará im Norden Brasiliens, mitten im Amazonasgebiet, aufgrund von historischen Schmuggelrouten karibisch geprägt. In den 1950er-Jahren brachten Schiffe, die mit Parfüm und Whisky beladen waren, auch Schallplatten mit Merengue, Salsa und Zouk mit. Etwa 60 Jahre später münden diese karibischen Klänge in „Tecnobrega“ – ein Musikgenre, das sich aus der Aneignung und Veränderung von Volksliedern mit Synthesizern und Drumcomputern ergibt. Über 3000 Tecnobrega-Partys schießen pro Monat allein in Belém, der Hauptstadt von Pará, aus dem Boden. Inzwischen tanzen nicht nur in Brasilien Hipster zur „schmutzigen“ Musik aus den Armenvierteln, die immer noch über riesige Ghettoblaster mit dem Spitznamen „boca de ferro“ (engl. iron mouth) ihre Zuhörer_innen beschallt.
In dem exzessiven Solo für Ícaro dos Passos Gaya prasselt der harte Sound von Tecnobrega auf den Tänzer ein – dreckig und unanständig wie die frühen Brega-Rhythmen. Unsichtbare „Geister“ scheinen vom Körper des Tänzers Besitz zu ergreifen. Er wird zur grenzenlosen Zone der Invasion, bei der in einem schweißtreibenden Tanz Millionen von Informationen wie Stromstöße durch den Tänzer jagen. Internet-Memes liefern Textfetzen, die Vitalität und Obszönität, Banalität und Tod nebeneinanderstellen und Gegensätze nicht auflösen, sondern in der Ekstase noch zuspitzen.
“An infernal dance-rhapsody, irreverent, playful, provocative, indecent, furious, cunning and sensual. A dance emanated by a body laden with others, of contradictions, ambiguities, goods and evils, that is, a human body, of people.” Marcela Levi & Lucía Russo
“Ícaro dos Passos Gaya beautifully incorporates the energy of desperation that once again gives the cards of losing oneself by means of successive movements of possession/dispossession. In a sort of mesmerizing vertigo, the body receives the spirals of a raucous sound along with its callings of urban and decayed nature, ensuing from a mystic- and mythless reality, yet it unveils its potency by suspending oppositions, becoming radically receptive to the penetration forces. As in Caravaggio, here the earthly drama is also a dramatic mass of undigestible forces […].” Laura Erber
Marcela Levi studierte an der Tanzschule Angel Vianna in Rio de Janeiro und kreiert seit 17 Jahren Performances an der Schnittstelle zwischen Tanz und bildender Kunst. Ihre Arbeiten wurden auf verschiedenen Festivals gezeigt, u. a. Kunstenfestivaldesarts (Brüssel), COCOA Festival (Buenos Aires) und ImPulsTanz.
Sie arbeitete u. a. mit Lia Rodrigues, Vera Mantero und Guillermo Gomez-Peña zusammen. 2010 gründeten Marcela Levi und Lucía Russo in Rio de Janeiro Improvável Produções: ein offenes Autor_innenprojekt, bei dem Dissens als konstruktive, kritische Kraft genutzt wird, ohne sich in Widersprüchlichkeiten aufzulösen.
marcelalevi.com
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