Stranger Than Paradise
Im Tanz werden die Körper politisch, zugleich wird das Politische poetisch. In Stranger Than Paradise wird dieses doppelte Spiel mit außerordentlicher Konzentration betrieben. Der Titel der Produktion ist einem Road-Movie entliehen, das nicht ästhetisch oder narrativ, nur atmosphärisch Pate stand. Der Regisseur und Autor Jim Jarmusch zeichnete 1984 in Stranger Than Paradise die tragikomische Koexistenz dreier einsamer Figuren als Choreografie winterlicher Verlorenheit nach: entkräftete Körper in weiten, leeren Räumen, in „posthumanen“ Szenerien. Die Idee des Urban Cool, die Jarmusch in die Schneelandschaften Clevelands transferiert, wird von Liquid Loft in eine Reflexion der Erweiterung menschlicher Kapazitäten übersetzt: in das Mechanische, das Animalische, auch das „Monströse“ einer tier-menschlichen Existenz.
Der Körper ist ein Auslaufmodell; noch wird er gebraucht, aber die Zurüstungen für seine Abschaffung laufen – und rufen Melancholie, Abschiedsmanöver wach. Im sphinxischen Schillern der Tänzer*innen ist die alte Utopie der Gleichberechtigung der Wesen versteckt. Die Auseinandersetzung mit dem humanimal wirft Fragen der Teilung und der Verdoppelung auf. Ist das Bild, das der Spiegel produziert, eine Addition oder eine Division? Teilt er die Ansicht, die sich ihm bietet, oder doppelt er sie?
Modifikation und Infektion liegen nah beieinander: Wir sind Biomaschinen, elektronisch verbessert, aber biologisch gefährdet. Nur die Technologisierung, die Synthese von Fleisch und Mechanik kann uns sichern: Die Illusion des Menschlichen, die in dessen perfekt nachgebauten Oberflächen steckt, täuscht über das Artifizielle der neuen Spezies hinweg. Wir werden uns an sie, also an uns gewöhnen.
— Stefan Grissemann
wurde 2005 vom Choreografen Chris Haring gemeinsam mit dem Musiker Andreas Berger, der Tänzerin Stephanie Cumming und dem Dramaturgen Thomas Jelinek gegründet. Geleitet von einer Auseinandersetzung mit Science-Fiction-Literatur und Cyborg-Theorie reflektieren die Arbeiten von Liquid Loft die Erfahrung, wie sich unsere Wahrnehmung und unsere Körper durch visuelle Medien und den alltäglichen Gebrauch von Technik verändern.
Mit dem Verfahren der Dekonstruktion und Rekonstruktion sowohl des tänzerischen Bewegungsmaterials als auch der Perspektiven körperlicher Wahrnehmung erschließt Liquid Loft immer wieder neue choreografische Handlungsfelder. Die eigenwillige Bild- und Formensprache, die unverkennbaren akustischen Bühnensets und die professionelle tänzerische Umsetzung brachten Liquid Loft internationale Anerkennung wie den Goldenen Löwen für die „Beste Performance“ bei der Biennale Venedig 2007.
Credits
Verfügbar bis So, 31. Jan, 19.30 Uhr
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