TQW Magazin
Miriam Stoney über Knight-Night von Bryana Fritz & Thibault Lac

Hochgradig idealistisch, unrealistisch, nicht praktikabel[1]

 

Hochgradig idealistisch, unrealistisch, nicht praktikabel[1]

Ich denke, es ist unvermeidlich, zu fragen, ob wir Don Quijote gelesen haben. Soweit wir sagen können, hat das keine*r von uns getan, und doch haben wir es alle gelesen. Don Quijote lesen; Don Quijote. Und Sancho Panza. Wir lesen den Wikipedia-Eintrag in der Straßenbahn auf dem Weg zur Halle G und denken: „Hört sich alles sehr vertraut an“, und vielleicht haben wir das englische Wort „quixotic“ einmal beiläufig gesehen, gehört oder sogar verwendet, ohne wirklich genau zu wissen, was es bedeutet, und ohne eine klare Vorstellung davon zu haben, warum dieser Don es verdient hat, dass ein Adjektiv nach ihm gebildet wurde. Vielleicht mutmaße ich zu viel. Wenn Don Quijote wirklich der erste Roman war, dann ist es vielleicht auch der letzte. „Oder war das Ulysses?“, fragen wir, als ob Kategorien wie Erster und Letzter von Bedeutung wären, als ob wir nichts von Don Quijote gelernt hätten, der der Literatur entsprungen ist und folglich an einer Erbkrankheit stirbt, bei der die Betroffenen der Illusion der Fiktion beraubt werden.

Manche Dinge üben trotz oder gerade wegen ihrer scheinbaren Unzeitgemäßheit einen gewissen Reiz auf uns aus. Und welche Zeit ist heute für uns relevant? An einem Samstagabend Ende Februar sind wir 75 Minuten lang damit beschäftigt, die Epochen durcheinanderzubringen: Jacques Brel – neu interpretiert; Prince – neu interpretiert; Kathy Acker – neu interpretiert; Rüstung: jetzt; Liebe: immer; Tod; und dann. Die Synkopierung von Sprachen, Französisch und Englisch, die sich wiederholenden Kreisläufe, die zu Nichtigkeiten werden – und da wären wir, immer noch am Leben. Im Mittelalter, in der Endzeit, auf der Afterparty, jetzt.

Während wir in der Halle G unsere Plätze einnehmen, hallen Hufschläge durch den Raum. An den Rändern eines wegen seiner relativen Leere als Bühne erkennbaren Teils des Saals stehen Bryana Fritz und Thibault Lac, wie wir annehmen. Beide mit einem eingefrorenen Lächeln im Gesicht und einem rhythmischen Puls, der durch ihre Körper zuckt – das nicht vorhandene Ross, das nur als Klang zugegen ist und den Beat liefert, der uns bewegt. Wir haben gelernt, das einst in der Kunst allgegenwärtige Pferd zu verinnerlichen; es braucht nicht viel, um es vor unserem geistigen Auge lebendig werden zu lassen. Wenn Knight-Night die „fragmentierten Verkörperungen verschiedener Don Quijotes und, nicht zu vergessen, des berüchtigten Sidekicks Sancho Panza, mal Freund, mal Komplize, mal Pferd“[2] in die Gegenwart dieser beiden Performer*innen überträgt, ist es nun unsere Aufgabe, ihre Performance wieder in Worte zu fassen und zu sehen, welche Formen dadurch erkennbar werden.

Für diejenigen von uns, für die Tanz ein gänzlich unverständliches Medium ist und die Don Quijote ohnehin nicht gelesen haben, löst sich dieser Wunsch nach figurativer oder narrativer Darstellung in der ersten fokussierten, abstrakten Choreografie auf, die größtenteils von Fritz solo performt wird. Die beklemmend blechern klingende Version von Prince’ Klassiker I Would Die 4 U formuliert eine Frage, die in einem späteren Monolog erneut gestellt wird und die wir wie folgt paraphrasieren: „Brauchen wir eine*n andere*n zum Lieben?“ Dying for U, Tanzsolo, dann ist da eine um sich selbst drehende oder eigentlich eher sich wiederholende Kehrtwendung, und vielleicht ist es das, was uns am Leben hält und lieben lässt, während wir uns fatalerweise zum wiederholten Mal für eine*n (imaginäre*n) Andere*n selbst aufopfern. Aber jetzt verlieren wir uns in Mutmaßungen; ich weiß.

Wir haben uns tatsächlich verloren und haben es genossen. In den Details nämlich: den spitz zulaufenden Turnschuhen, die wie mittelalterliche Stiefelchen ausschauen, und den Mikrofonnippeln, in die der Mund Geräusche gibt, ohne zu nehmen, und dem Vorhang, der langsam wie eine Guillotine herabfällt und wieder nach oben geht wie ein Dacapo. Im Aufflackern der Erinnerung schauen wir beiden Performer*innen dabei zu, wie sie ihre Hände vor die Augen halten, um sie vor einer Sonne zu schützen, die irgendwo im Off leuchtet, zucken wie sie zusammen und erinnern uns an die psychedelische Nacht, in der auch wir Ritter waren und nur das grelle Licht irgendwo im Off uns aufhalten konnte. Wir denken über unsere Abenteuer auf der Bühne nach und fragen uns, beinahe ernsthaft: „Sollen wir auch tanzen?“ Und genau zu diesem Zeitpunkt verlieren wir uns bereitwillig, wenden uns einer Fiktion zu und galoppieren mit voller Wucht vorwärts, auf und davon: Die Assoziationskette, die eine so sorgfältig ausgearbeitete Performance hervorrufen kann, verbindet uns miteinander und bringt uns dazu, eingehender darüber nachzudenken, welche Möglichkeiten uns die Kunst bietet, und selbst Kunst zu machen.

Das ist das Schöne an Don Quijote und an der anschaulichen Wiederaneignung der Figur des Don Quijote durch diese anderen „fragmentierten Verkörperungen“ – sie untergräbt die Autorität des Literaturkanons und gibt uns die Möglichkeit der Autor*innenschaft zurück, die immer eine Möglichkeit, aber nie eine Selbstverständlichkeit ist. Und so verlassen wir die Halle G und warten am Burgring 15 Minuten darauf, dass der Zweier kommt, und während wir warten, tippen wir eine Notiz in unser Telefon: „I have been writing Don Quixote 4 U all this time.

 

[1] Definition von „quixotic“ aus dem Online-Wörterbuch bab.la (en.bab.la/dictionary/english/quixotic), dessen englische Einträge von Oxford Languages stammen.
[2] Aus dem Abendprogramm.

 

 

Miriam Stoney lebt und arbeitet als Schriftstellerin, Übersetzerin und Künstlerin in Wien. Performance- und Installationsarbeiten wurden bereits im Austrian Cultural Forum, London, im Salzburger Kunstverein, im Kunstverein München, bei der Kyiv Biennale, Wien, im Belvedere 21, Wien, und in der Klosterruine Berlin gezeigt. Ihre Beiträge erscheinen in diversen Literaturzeitschriften, Künstler*innenbüchern und Ausstellungskatalogen.

 
Loading