TQW Magazin
Arno Böhler über The weather is nice, let’s picnic von Oleg Soulimenko / PARASOL

Faltungen der Subjektivität

 

Faltungen der Subjektivität

Oleg Soulimenko und die Tanzgruppe PARASOL (die vier Performer*innen Nadine Mathis, Julia Müllner, Oneka von Schrader und Yuwol June C.) haben uns zum Picknick geladen. Es findet in der Tanzquartier Wien Halle G statt. Wie viele andere bin ich der Einladung gefolgt. Suggeriert der Titel The weather is nice, let’s picnic doch eine ausgelassene Stimmung. Und zwar auf mehreren Ebenen zugleich: mental, ökologisch und sozial. Dreimal schönes Wetter, drei Ökologien[1], drei gute Gründe für ein Picknick.

Die Halle G ist voll. Das Publikum sitzt teilweise vor, teilweise auf der Bühne. „Let’s walk on the wild side!“, hören wir eine der Performer*innen ins Publikum schreien, während ein Tuch nach dem anderen auf den Tanzboden gelegt wird. Schicht für Schicht. Tausend Plateaus.[2] Die Tücher und Decken sind aus unterschiedlichsten Materialien gewoben und weisen die verschiedensten Muster auf. Linien, Bilder, auf einem Tuch ist das Wort „HOME“ zu lesen. Nach einer Weile überlagern die Stoffe großflächig den Boden der Bühne. Nur wenige Falten unterbrechen die Glätte ihrer Oberflächen. Der Boden für das Picknick ist bereitet. Man tratscht miteinander, tauscht Alltäglichkeiten aus. „I hope this email finds you well“, „I don’t know who ate my ice-cream“, „Where is my Tesla?“. Der Ausnahmezustand[3] scheint fern. Ab und zu wird die Welt des Alltäglichen auch sprachlich verlassen: „How many days does this war last already?“ Der Krieg in der Ferne ist da, aber die Normalität des Picknicks regiert. Und doch. Manchmal bricht er herein, der Ausnahmezustand. Etwa dann, wenn sich die Performer*innen in die Tücher und Decken hüllen. Wenn sie sich darin oder darunter verstecken, verdecken, verbergen, verkriechen, verhüllen. Bis zur Unsichtbarkeit, bis zur Unkenntlichkeit.

Es ist dieses kryptische Spiel des Versteckens, des Verdeckens, des Verbergens, des Verhüllens, des Verkriechens, das uns Oleg Soulimenko und die vier Performer*innen an diesem Abend in poetischen Bildern und Faltungen vor Augen führen.

Inzwischen ist es in der Halle G dunkel geworden. Ein neues Plateau wird aufgeschlagen. Eines, das in den Tiefen der Nacht schlummert. Mercedes, Tesla, Haus des Meeres, David Bowie, Lady Gaga, banale Phantasmen sind es, die die Performer*innen heimsuchen. Die Banalität des kollektiv Imaginären[4] spricht aus ihnen. Ach! Phantastischer noch als im Träumen mutet die Welt unserer Jagdgesellschaften im Wachen an. Tag für Tag. Wachen Auges jagen sie Erträumtem nach.

Im Theaterraum kehrt hingegen langsam Ruhe ein. Nur sanfte Klänge ertönen leise, ehe sie schon wieder verhallen. Sie kommen von den vor sich her singenden, murmelnden Performer*innen. Sanftmut erfüllt den Raum. Erst im Morgengrauen erwacht aus verborgener Tiefe allmählich ein Grollen und Dröhnen. Erst langsam findet es in eine sprachliche Ordnung.

Das Licht ist wieder an in der Halle G. In dem Haufen befindet sich auch eine blaue Plane, wie wir sie von den Behausungen Obdachloser kennen. Sie schützen vor Regen und Nässe. „Shelter“ war eines der Worte, die an diesem Abend zu hören waren. Wir kennen es auch aus Kinderzeiten. Häuser aus Tüchern, Decken und Planen, in denen wir unsere Schätze verstecken. Einmal namenlos, einmal gesichtslos, einmal anonym werden, völlig de-subjektiviert?[5] In der Tat, man kann sich hinter tausend Plateaus verstecken. Einzeln oder kollektiv. Singular-Plural[6].

Eine der Performer*innen zieht ein großes weißes Seidentuch aus dem Haufen. Es wird direkt vor dem Publikum aufgespannt. Als würden wir in der Höhle aus Platons Höhlengleichnis sitzen,[7] ziehen die Schatten der Performer*innen nun vor den verschleierten Augen des Publikums vorbei. Abbilder, Trugbilder, Phantasmen.[8] Ein wenig später wird ein*e Performer*in energisch ein gelbes Tuch schwenken und Flagge zeigen. In friedlicher Absicht, womöglich, womöglich auch nicht.

Noch einmal wird es still in der Halle G. Der Haufen von Tüchern und Decken bewegt sich. Die in ihn eingefalteten Körper beginnen sich monströs aufzubäumen und gemeinsam durch den Raum zu bewegen. Eine der Performer*innen setzt sich auf die Skulptur und fängt an, auf ihr zu reiten. Gelassen sitzt sie obenauf; mit einer Mundharmonika; königlich.

Schließlich finden sich alle vier wieder dabei, ein Tuch nach dem anderen aus dem Haufen zu ziehen und auf dem Boden übereinandergeschichtet abzulegen. Eine Schicht, eine zweite Schicht, eine dritte, vierte. Hysterisches Gelächter mischt sich in die aufeinandergehäuften GeSchichten, bis endlich alle vier in ihrem selbstgebauten Versteck aus luftigen Tüchern verschwunden sind.

Es ist eine poetische Reise durch tausend Plateaus, die man hinter sich lässt, wenn man das Picknick verlässt.

 

 

Literaturhinweise:

[1] Félix Guattari, Die drei Ökologien, hg. von Peter Engelmann (Passagen Forum), 4. Aufl., Wien 2019 (orig. 1989).
[2] Gilles Deleuze und Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin 1992 (orig. 1980).
[3] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers. von Hubert Thüring, Frankfurt a. M. 2002 (orig. 1995).
[4] Cornelius Castoriadis, Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1990 (orig. 1975).
[5] Gilles Deleuze und Félix Guattari, Was ist Philosophie?, übers. von Bernd Schwibs und Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1996 (orig. 1991).
[6] Jean-Luc Nancy, Singulär plural sein, übers. von Ulrich Müller-Schöll, Zürich 2004 (orig. 1996).
[7] Platons Werke. Dritter Theil. Der Staat, hg. von Friedrich Schleiermacher, Berlin 1985.
[8] Jean Baudrillard, Simulacra & Simulation, Michigan 1994 (orig. 1981).

 

Arno Böhler lehrt Philosophie an der Universität Wien, Institut für Philosophie und an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien. Er ist Gründer des Philosophie-Performance-Festivals Philosophy On Stage und Projektleiter des PEEK-Projekts (AR 822) „Philosophie der Kunst : Kunst der Philosophie,“ gefördert vom Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) 2024-2027. Förderungs-DOI: 10.55776/AR822. Weitere Informationen: homepage.univie.ac.at/arno.boehler/php/

 

 
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