TQW Magazin
Astrid Wagner über On Earth I’m Done: Mountains von Jefta van Dinther / Cullberg

Fast-Forward-Flashback

 

Fast-Forward-Flashback

Graue Schwaden hängen über der Tribüne. Ein schönes Publikum sitzt im nebligen Nebel. Ein Stern am Horizont, weißer Stoff in der Dunkelheit auf einem schwarzen, samtig weichen Boden. Downbeat-Bass und Miniberge. Der Stern ist ein Irrlicht. Trap-Beat. Eine Stange. Ein Solotänzer als laserartig rot wogende Materie im körperbetonten Ganzkörper-Jumpsuit-Overall-Langarm-Bodysuit-Modern-Dance-Catsuit, atmungsaktiv für Sport, Training und Fitness. Special-Edition-Turnschuhe. Der Tänzer hält das Ende der sehr langen Stange. Er singt in das schimmernde Metall. Er singt in die Stange hinein und beginnt einen Experimental-Pop-Jäger-Stangen-Tanz. The Carrier Bag Theory of Fiction von Ursula K. le Guin beschreibt, dass vor dem Werkzeug, das Energie nach außen drückt – den Stöcken, Schwertern und den langen, harten, tödlichen Werkzeugen des Helden – unsere Vorfahr*innen Werkzeuge erfunden haben, die Energie nach Hause bringen. Behältnisse wie zum Beispiel Beutel, Netze, Bündel oder Taschen sind in der Carrier-Bag-Theory die wichtigsten Erfindungen der Menschheitsgeschichte. Zurück zum Poledance: Eine Mühle mahlt, man rudert das Boot. Der Tänzer spielt als Herr des Stabes verschiedene Arten von Arbeit und Hierarchien durch. Gefangen in Geschichte und Erinnerung bewegt sich die Heldenfigur artifiziell in einer Dauerschleife bedrückender Bilder; Computed Moves, konzentrische Kreise, gefolgt von einer Ein-Mann-Orgie und der Imitation eines Raubtiers auf allen vieren. Wenn das Publikum ein Körper mit einem Gehirn wäre, dann würde ich wahrscheinlich gerade einen kollektiven Flashback erleben, eine Reizüberflutung, bei der Erinnerungen als Folge der mangelnden Verarbeitung durch das Gehirn als Intrusionen zurückkommen. Ich beobachte den Tänzer bei seinen unzähligen Versuchen, etwas zurückzulassen, in einem albtraumhaften Auf-der-Stelle-Treten. Ohne Atempause gibt es kein Entkommen. Absent Pleasure und Minimal-Club-Bässe, Zeitlupentänze. Das Kostüm wird zu einer Haut als Zwangsjacke. Ein Bild überlagert das andere, dröhnender Ton, kontinuierlicher Klang, andauerndes Geräusch. Der Tänzer beginnt, sich im weißen Bühnenstoff zu verwickeln. Reglos hängt er im Bühnenbild fest, das weiße Tuch wird zum Märtyrer-Lendenschurz. Bühne frisst Tänzer. No way out. Ausgestreckt in weißem Tuch, in einer schleifenden Hängematte auf schwarzem, weichem Teppich befreit sich dieser Mensch, um wieder als Slow-Motion-Running-Man auf der Stelle zu gehen. In der samtenen Blackbox singt er „I love you all“ und wandert langsam als Silhouette in einem walkeresken Scherenschnitt um einen Berg. Ich atme und denke: Dear Mountain, I am far from done with this earth.

 

Astrid Wagner, geboren 1982, ist Künstlerin und lebt in Wien. Ihre Arbeit besteht aus performativer Skulptur, Malerei, Text und Szenographie. Sie unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst Wien. astridwagner.net

 

 

 

 
Loading