Theorie/Performance
Ein Symposium zum Thema Entfremdung

Antarktika

Antarktika

In einer Skizze zu einem Film schrieb der Regisseur Michelangelo Antonioni: „Die Gletscher der Antarktis rücken jährlich drei Millimeter auf uns zu. Ausrechnen, wann sie ankommen. In einem Film vorhersehen, was dann passieren wird.“ Wer Antonioni kennt, kann erahnen, was das Thema eines solchen Films gewesen wäre. Das Bild der Eiswüste, metaphorisch verdichtet – ein Befund, so alt wie die Moderne: Entfremdung. Heute weiß die Klimaforschung: Mit einer Eiszeit ist vorläufig nicht zu rechnen. Die Polkappen dehnen sich nicht nur nicht aus, sie schrumpfen. Und auch jenseits des Klimatischen stehen die Zeichen auf Erwärmung: Affektivität und Kreativität haben das Primat der „bürgerlichen Kälte“ (Adorno) abgelöst. Authentisch ist das neue Cool. Ist der Entfremdungsbefund also Geschichte?

Als Auftakt zu Antarktika. Eine Ausstellung über Entfremdung in der Kunsthalle Wien (ab 25. Oktober 2018) veranstalten Tanzquartier Wien und Kunsthalle Wien ein Symposium zum modernen Entfremdungsbegriff. Von den entfremdungskritischen Kontinuitäten in der Geschichte moderner und zeitgenössischer Kunst bis zur (scheinbaren) Abwesenheit von Entfremdung in der „neuen Arbeitswelt“ wollen wir den Entfremdungsbefund erneut auf seine Evidenz und Produktivität prüfen.

Mit Angela Dimitrakaki, Michael Hirsch, Nina Power, Andreas Rumpfhuber, Kerstin Stakemeier, Marina Vishmidt

Am Donnerstag und am Freitag zeigen Antonia Baehr, Latifa Laâbissi & Nadia Lauro im Rahmen des Symposiums die Performance Consul und Meshie in der Kunsthalle Wien. Die Künstlerin Claudia Bosse leitet parallel ein Labor Über ästhetische Strategien der Verfremdung und präsentiert die Ergebnisse gemeinsam mit den Laborteilnehmer_innen am Samstag in den TQW Studios.

 

Eintrittspreise:
Do/Fr € 5 Einheitspreis
Sa € 2 Einheitspreis
3-Tagespass € 10

Tickets an der Abendkasse der Kunsthalle Wien erhältlich. Eintritt frei mit TQW Card Gold und Kunsthalle Jahresticket.

 

04.10.
06.10.
Do–Sa
 
Kunsthalle Wien, TQW Halle G, TQW Studios
Festival Day 1
04.10.

„Monkeys and apes have a privileged relation to nature and culture for western people: simians occupy the border zones between those potent mythic poles. In the border zones, love and knowledge are richly ambiguous and productive of meanings.“ — Donna Haraway, Primate Visions, 1989

Die beiden Schimpans_innen Consul und Meshie lebten Anfang des 20. Jahrhunderts unter Menschen und betrachteten sich schließlich selbst als solche. Antonia Baehr und Latifa Laâbissi eignen sich ihre Identitäten frei inspiriert von den Biografien der beiden historischen Figuren an: Haarig und freizügig, unverschämt und schamlos, gut angezogen und anzüglich, besetzen diese beiden Hybride eine visuelle Installation von Nadia Lauro, die sich in der Kunsthalle Wien einnistet. Vom freigestellten Innenraum einer Limousine aus stellen sich Consul Baehr und Meshie Laâbissi für die Dauer von mehr als drei Stunden zur Schau, während das Publikum nach Belieben kommt und geht. Sie geraten außer Kontrolle und kontrollieren sich, richten sich gegenseitig ab. Sie zerschmettern Phrasen populistischer Reden, kannibalisieren Posen und ikonische Tänze, sticken feministische Parolen, deren gebügelte Weis(s)heit alles andere als unschuldig ist. Que(e)r zu Zeiten, Räumen, Rastern stellen Consuls und Meshies unmögliche Präsenzen die Gewalt von Zuschreibungen infrage, Kategorien wie Natur/Kultur, Mann/Frau, das Selbst und der*die Andere.

Können wir heute noch von Entfremdung reden? Ausgehend von post-, trans- und anti-humanistischen Theorien wird dieser Vortrag den Versuch unternehmen, die Nützlichkeit des Entfremdungsbefunds zu verteidigen, wobei zugleich der Distanz zwischen uns und den Feuerbach’schen und Marx’schen Verwendungsweisen des Begriffs Rechnung getragen werden soll.

Festival Day 2
05.10.

Michael Hirsch: Emanzipatorische Entfremdungskritik. Überlegungen aus Sicht eines humanistisch-feministischen Neomarxismus

Der Vortrag fragt nach der Aktualität und der Relevanz des Entfremdungsbegriffs, wobei die Intention zugleich eine sozialphilosophische und eine politische ist. Zunächst soll der klassische Begriff der Entfremdung ausgehend von Marx‘ Frühschriften skizziert werden. In einem zweiten Schritt werden die Positionen des Neomarxismus des 20. Jahrhunderts (Marcuse und Adorno) beleuchtet werden. Abschließend soll ein Blick auf die scheinbare Aufhebung von Entfremdung in zeitgenössischen „verwilderten“ Arbeitsregimen geworfen werden.


Andreas Rumpfhuber: Einhegungen des Widerspruchs: Die Bürolandschaft und ihr zeitgenössisches Erbe

Gegenwärtig werden wir Zeuge eines Revivals und einer zeitgenössischen Neu-Interpretation und Variation der Bürolandschaftsgestaltung: Sei es SANAAs „Landscape“ ( – im buchstäblichsten Sinne –) für das Rolex Learning Center in Lausanne, sei es Frank Gehrys Facebook Open Plan Office in Paolo Alto, California, oder OMAs Springer Campus Design in Berlin, um nur einige besonders prominente Beispiele zu nennen. Diese neue Welle von Projekten in der Tradition der Bürolandschaft gibt Anlass zu einer neuerlichen Betrachtung des Konzepts: Welche andere Vision von Arbeit setzt es dem Befund der entfremdeten Arbeit entgegen?

„Monkeys and apes have a privileged relation to nature and culture for western people: simians occupy the border zones between those potent mythic poles. In the border zones, love and knowledge are richly ambiguous and productive of meanings.“ — Donna Haraway, Primate Visions, 1989

Die beiden Schimpans_innen Consul und Meshie lebten Anfang des 20. Jahrhunderts unter Menschen und betrachteten sich schließlich selbst als solche. Antonia Baehr und Latifa Laâbissi eignen sich ihre Identitäten frei inspiriert von den Biografien der beiden historischen Figuren an: Haarig und freizügig, unverschämt und schamlos, gut angezogen und anzüglich, besetzen diese beiden Hybride eine visuelle Installation von Nadia Lauro, die sich in der Kunsthalle Wien einnistet. Vom freigestellten Innenraum einer Limousine aus stellen sich Consul Baehr und Meshie Laâbissi für die Dauer von mehr als drei Stunden zur Schau, während das Publikum nach Belieben kommt und geht. Sie geraten außer Kontrolle und kontrollieren sich, richten sich gegenseitig ab. Sie zerschmettern Phrasen populistischer Reden, kannibalisieren Posen und ikonische Tänze, sticken feministische Parolen, deren gebügelte Weis(s)heit alles andere als unschuldig ist. Que(e)r zu Zeiten, Räumen, Rastern stellen Consuls und Meshies unmögliche Präsenzen die Gewalt von Zuschreibungen infrage, Kategorien wie Natur/Kultur, Mann/Frau, das Selbst und der*die Andere.

Festival Day 3
06.10.

Claudia Bosse und die Teilnehmer_innen des von 2.—6. Oktober stattfindenden Labors jeder sollte sich von sich selber entfernen, sonst fällt der schrecken weg, der zum erkennen nötig ist*. über ästhetische strategien der verfremdung präsentieren die Ergebnisse ihrer Recherchen.

Das Labor öffnet einen Raum zwischen Künstler_innen und Denker_innen zu künstlerischen Methoden der Verfremdung. Verfremdung als Strategie der Verschiebung von Perspektiven und Konstellationen durch spezifische ästhetische Verfahren. Verfremdung als aushandelnde Vergegenwärtigung von Phänomenen, gesellschaftlichen Gegebenheiten oder Normen in der Kunst, der Politik, dem Körper, der Ökonomie, dem Wissen, der Gesellschaft. Verfremdung versus Entfremdung: Zugleich verhandelt wird das Labor, die Rolle von Künstler_innen gegenüber Institutionen und der Politik, deren Funktionsweisen, deren Verwertungslogiken, deren Wertschöpfungen.

*Bertolt Brecht

Marina Vishmidt: Relatable Alienation – Die Logik und Geschichte einer Idee

Dieser Vortrag ist eine Problematisierung der These, der zufolge Kunst durch ihren besonderen, nicht-entfremdeten Charakter wesentlich von anderen Formen von Arbeit unterschieden sei. Ausgangspunkte dafür sind: 1. die Rekonstruktion von Marx‘ Unterscheidung zwischen Entfremdung und Vergegenständlichung als Basis für eine Kritik der zeitgenössischen affirmativen Bezugnahmen auf Entfremdung; 2. die Fragestellung was an künstlerischer Arbeit entfremdet ist und was nicht; 3. die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Exzeptionalität“.


Kerstin Stakemeier: Die Ästhetischen Eigenschaften der Entfremdung

In den ästhetischen Theorien des 20. Jahrhunderts ist Entfremdung als Ursünde des modernen Subjekts konzipiert: Sie bezeichnet seine Trennung von derjenigen Welt, die er kapitalisierte. Aber Entfremdung ist weit mehr als das: Unsere Entfremdung ist das Eigentum an uns selbst. In ihrem Vortrag spürt Kerstin Stakemeier den historischen und zeitgenössischen Verbindungslinien zwischen ästhetischen Praxen nach, die dieses Selbst-Eigentum mit Dynamiken einer möglichen Selbst-Enteignung konfrontieren. Dabei begreift sie Entfremdung weniger als Sünde, denn als konstitutives Privileg.


Angela Dimitrakaki: 
Left with TINA – Entfremdung und Anti-Kommunismus

Wir leben inmitten einer entgrenzten Kultur des Dagegenseins, des Anti. Die prominenteste unter den zeitgenössischen Strategien des Dagegenseins trägt den Namen Anti-Kapitalismus. Dieser Vortrag versucht den ideologischen Horizont jenes „Anti“ zu problematisieren, indem er es mit der historisch erfolgreichsten Kampagne des Kapitalismus in Beziehung setzt, die ihrerseits unter einem Anti firmiert: dem Anti-Kommunismus.

 

 
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