Theorie
Don’t trace no lines

Practices of diaspora

Practices of diaspora

Die TQW Winter School ist Festival, Experiment und Begegnung zwischen Diskurs und Praxis. Die dritte Ausgabe widmet sich zwei Tage lang dem Thema Diaspora und dessen Schnittstellen mit performativen, verkörperten und diskursiven Praktiken.

Es ist notwendig, einen Raum jenseits des Nationalstaats zu imaginieren und andere Antworten auf die Frage zu formulieren, wo wir uns verorten, hier und jetzt. Es ist notwendig, das Nicht-im-Einklang-Sein mit hegemonialen Formen der Zugehörigkeit wertzuschätzen. Es ist notwendig, Welten und Gemeinschaften anders zu gestalten und sich dabei von dem leiten zu lassen, was in Welten, die ausgelöscht wurden, anders war oder sein könnte oder hätte sein können. Es ist notwendig, das Dazwischen als sinnstiftende Praxis zu etablieren, als eine Position, von der aus Zukunft als Plural gestaltet werden kann. Don’t trace no lines ist eine Einladung, auf polyzentrische, verwobene, multitemporale Weise zu denken – durch die Ästhetiken, die Formen, die Materialien, die Diskurse und die Praktiken, die aus verschiedenen diasporischen Erfahrungen entstehen. Gleichzeitig ist die Winter School ein offenes Laboratorium, in dem erforscht wird, wie künstlerische Praktiken diasporische Allianzen schaffen können, indem Verbindungen, Überschneidungen und Solidaritäten zwischen diasporischen Positionen gesucht werden.

Jeder Tag der Winter School beginnt am Vormittag mit einem Workshop, gefolgt von Filmvorführungen, Vorträgen und Gesprächen am Nachmittag und Konzerten am Abend. Die Winter School steht allen offen – Theoretiker*innen, Künstler*innen, Kurator*innen, Artistic Researchers, Aktivist*innen, Zuschauer*innen – unabhängig von ihrer Erfahrung.

Mit: Noit Banai / Mariama Diagne / Monika Halkort, Cana Bilir-Meier, Karin Cheng mit Girishya Stella Kurazikubone, EsRAP, Ayesha Hameed, Raisa Kabir, Susana Ojeda, Miriam Schickler

11.01.
12.01.
Sa–So
 
TQW Winter School

Die Veranstaltung findet in den TQW Studios statt.

Eintritt frei

Festival Day 1
11.01.

Raisa Kabirs künstlerische Arbeit befasst sich mit den Mobilitäten von Menschen und Textilien, verkörperten Archiven und mit Geografien antikolonialen Widerstands. In diesem Workshop lernen die Teilnehmer*innen, wie sie mithilfe von am Körper befestigten Webstühlen miteinander und in Bezug zu festen Punkten im Raum gewebte Stoffe herstellen können. Material Bodies ist ein Angebot, sich mit dem eigenen und anderen Körpern zu beschäftigen, um die physischen und spirituellen Spannungsfelder und Verbindungen zwischen Körpern, Räumen und Territorien durch die Arbeit des Webens und das Herstellen von Stoffen zu erkunden.

Die Nachmittagssession mit Susana Ojeda ist eine Einladung, die Macht diasporischer Gemeinschaften zu reflektieren, wenn es um die Invokation von Wissen und um kollaboratives Lernen mit mehr-als-menschlichen Wesen geht. Eine Diskussion im Anschluss an das Screening des Kurzfilms Moskitos bietet die Gelegenheit, einige der im Film untersuchten Themen – wie etwa die Macht von Praktiken der Erneuerung von Gemeinschaften, dekoloniale Interventionen in der Wiener soziopolitischen Landschaft und kollaborative Möglichkeiten des Lernens mit mehr-als-menschlichen Wesen – zu diskutieren. Moskitos zeigt die Ruinen der europäisch-kolonialen Zivilisationsbestrebungen: ein Portal zu einer Welt in der Zukunft ohne uns, in der andere Arten gedeihen und die Erde ihr Territorium zurückerobert. Ein visuelles Manifest der Archäologie einer kapitalistischen Zivilisation, die gescheitert ist. Moskitos haben jedoch überlebt!

Am 29. April 2006 wurde vor der Südostküste von Barbados ein sechs Meter langes Boot gesichtet. An Bord fand die Küstenwache elf ausgetrocknete, von Sonne und Salzwasser konservierte Leichen. Das Geisterschiff trieb vier Monate lang auf dem Atlantischen Ozean. Es war am Weihnachtstag auf den Kapverden in Richtung Kanarische Inseln in See gestochen, an Bord waren Migranten aus dem Senegal, Guinea-Bissau und Gambia. Jeder dieser Männer hatte etwas mehr als umgerechnet tausend Euro für einen Platz auf dem Boot gezahlt.

Dies ist eine unzureichende Art und Weise diese Geschichte zu erzählen, die auf die vorhandenen Materialien und Werkzeuge zurückgreift, um die Komplizenschaft von Wetter, Meeresströmungen und staatlicher Gewalt auf der Reise dieses Schiffes zu begreifen. Zwischen Film und Essayform schwebt die Frage, was eine adäquate Vermessung von Geschichten und Affekten im Kontext der Überfahrt wäre und welche Sprachen die Materialität des Meeres und den sowohl messbaren als auch unermesslichen Schrecken, der in der Figur des Geisterschiffs steckt, sichtbar machen können.

TQW Studios

EsRAP – das sind die aus Wien-Ottakring stammenden Geschwister Esra und Enes Özmen. Das Duo produziert erfolgreich Hip-Hop mit deutsch-türkischen Texten, die Themen wie Identität, das Fremdsein im eigenen Land angesichts eines postmigrantischen Hintergrunds, Rap als Widerstand oder das Frausein in der männerdominierten Hip-Hop-Szene verhandeln. Die übliche Rollenaufteilung ist bei EsRAP vertauscht: Esra liefert harte und schnelle Reime, während Enes die feinfühlig-melodischen Vokalparts übernimmt. Musikalisch finden EsRAP Inspiration im türkisch-orientalischen Genre „Arabeske“, das sie gerne mit modernen Beats verbinden.

2019 erschien ihr Debütalbum Tschuschistan, 2022 folgte Mamafih, und 2023 präsentierte das Duo gemeinsam mit Gasmac Gilmore …weil sie Wien nicht kennen im ausverkauften Wiener Konzerthaus. Live bieten EsRAP aktuell eine Auswahl ihrer bisher veröffentlichten Werke. Gewürzt mit viel Charme, Ottakringer Witz und einem direkten Draht zum Publikum.

Festival Day 2
12.01.

Geteilte Welten ist eine multisensorische Intervention in die Erinnerungslandschaften des Berliner Tiergartens. Das Projekt liest die verschiedenen Holocaust-Denkmäler sowie andere öffentliche Stätten in ihren unterschiedlichen Verflechtungen durcheinander und verknüpft dabei Geschichten des Dritten Reichs mit Kolonial- und Migrationsgeschichten. Durch das Wechselspiel von verschiedenen Formen des Wissens und der Wahrnehmung schafft Geteilte Welten neue Möglichkeiten des gemeinsamen Erinnerns und der Trauer.

Im Workshop wird der Frage nachgegangen, wie verschiedene Geschichten von Gewalt auf eine nichtkonkurrierende, nichthierarchische Weise miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Können verkörperte multisensorische Ansätze derart verfestigte, getrennte Narrative durchbrechen?

Was sind die Hoffnungen und Träume für eine solidarische Gesellschaft? Cana Bilir-Meiers filmische, performative und textbasierte Arbeiten bewegen sich an den Schnittstellen von Archivarbeit, Textproduktion, historischer Forschung, zeitgenössischer Medienreflexivität und Archäologie. This Makes Me Want to Predict the Past – Becoming a Storyteller zeigt, wie durch Gedichte, Musik, Skulptur und Film persönliche und kollektive Erinnerung und Geschichte miteinander verknüpft werden können. Wie können wir persönliche Geschichten erzählen, die von Widerstand und Resilienz handeln und wie können wir diese kollektiv verankern und an die nächsten Generationen weitergeben?

Was geschieht, wenn Diaspora in die Kunstausbildung Einzug hält? Welche Worte und Konzepte wählen wir, um gelebte Erfahrungen von Migration, Exil und Vertreibung angemessen zu übersetzen? Welche Auswirkungen hat die Institutionalisierung und „Departmentalisierung“ vielfältiger diasporischer Geschichten und Ästhetiken? Welche Methoden können wir wählen, um verstrickte und komplexe diasporische Realitäten zu erfassen? Was findet Eingang in eine Diaspora-Bibliografie oder einen Lehrplan, und was bleibt ungesagt? Wie können die persönlichen Erfahrungen Studierender mit diasporischer Herkunft in einen formalisierten Lehr- und Lernprozess einfließen, ohne darin aufzugehen?

Die Paneldiskussion versammelt drei Forscherinnen und Pädagoginnen, die verschiedenen Institutionen angehören und sich auf unterschiedliche Kunst- und Kulturbereiche spezialisiert haben, um ihre Arbeits-, Denk- und Kommunikationsweisen im Umgang mit Diaspora zu erläutern.

In der die Winter School abschließenden Session kombiniert Cheng einen Workshop mit einem Talk und einem DJ-Set. Die Teilnehmer*innen sind eingeladen, sich mit ihrem kreativen Potenzial auseinanderzusetzen und zu erforschen, wie wir uns fluide durch verschiedene Versionen von uns selbst bewegen können. Der Workshop konzentriert sich auf das Entdecken des individuellen und kollektiven Flows im Körperausdruck und auf die Vertiefung der Verbindung zwischen Musik und Selbstbewusstsein. Den Abschluss bildet ein DJ-Set mit Gastsängerin Girishya Stella Kurazikubone, die mit ihrem Live-Gesang eine weitere Schattierung des verkörperten Klangs erzeugt. Ob ihr kommt, um Fragen zu stellen, euch gemeinsam zu bewegen oder einfach nur zuzuhören, der Raum ist offen für euch, um euch zu verbinden, zu fließen und zu transformieren.

 
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