TQW Magazin
Guillermo Espinosa über Moving in Concert von Mette Ingvartsen

Von archaischem Atavismus zu technologischer Zukunft

 

Von archaischem Atavismus zu technologischer Zukunft

Mette Ingvartsens Moving in Concert stand Anfang März am Programm und musste aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie abgesagt werden. Guillermo Espinosa konnte das Stück in Madrid sehen und wurde zu noch immer und wieder aktuellen Fragen angeregt:

 

Halten Sie sich für eine*n Apokalyptiker*in oder eine*n Integrierte*n? Damit meine ich: Glauben Sie, dass die technologische Revolution, in der wir leben, uns in eine bessere Welt führen oder vielmehr das Ende der Welt zur Folge haben wird? Entschuldigen Sie bitte, dass ich einige überholte Begriffe verwende, die ich einem Aufsatz von Umberto Eco[1] entnommen habe. 1964 geschrieben, befasst er sich mit der Massenmediengesellschaft, der Epoche vor unserer gegenwärtigen technologischen. Die Welt hat sich seit damals stark verändert. Heute akzeptieren wir ganz selbstverständlich Begriffe wie künstliche Intelligenz, Big Data, virtuelle Realität, digitale Kommunikation, Kybernetik oder Biotechnologie, und wir können uns sogar künftige Veränderungen im Ontologischen vorstellen, im Wesen des Seins, ohne dass uns das sonderlich beunruhigen würde: Am Horizont schimmert das Posthumane. Alles Dinge, die sich 1964 wie eine Science-Fiction-Geschichte anhörten. Da all dies Realität geworden ist, wird die grundlegende Frage „Sind wir für oder gegen eine Welt, die uns auf dem Weg der Innovation mitschleift?“ in unseren Gedanken wohl sehr relevant bleiben. Wird Technologie den Planeten zerstören? Oder wird sie einen ökologischen Wandel herbeiführen? Wird Big Data zur Abschaffung freier Gesellschaften beitragen? Oder wird es dabei helfen, Tyrann*innen niederzuschlagen? Wird sich künstliche Intelligenz gegen unsere durchsetzen? Oder wird sie mit uns koexistieren und uns treu dienen? Wird das Posthumane das Ende unserer Identität bedeuten? Oder wird es eine notwendige Entwicklung mit sich bringen?

Mette Ingvartsens Moving in Concert will einen Rahmen für die abstrakte Koexistenz zwischen den Basiselementen dieser Gleichung schaffen: dem Natürlichen, dem Menschlichen und dem Technologischen. Dabei bedient sich die Choreografin durchgehend der Metapher. Bereits vor Beginn des Tanzens eröffnen sich mehrere ineinandergreifende Interpretationsebenen: Von der Decke hängt ein schwarzes Rohr, das bald kleine Körner ausspucken wird. Auf dem Boden strahlen digitale LEDs weißes Licht aus. Dazwischen liegt ein rätselhafter gekrümmter Holzstab. Ein Durcheinander von gedämpften Stimmen kommt auf, wie ein Raunen im Hintergrund. Nackte Körper betreten die Bühne, nehmen hellenische Posen ein wie antike Skulpturen in einem Museum und entziehen sich so der Zerbrechlichkeit ihrer Nacktheit. Die Inszenierung greift sogar subtil alte Spannungen auf, die in den 1960er-Jahren in der plastischen Kunst entstanden. So wird etwa die Rationalität, die im ästhetischen Minimalismus (Dan Flavins flächige Lichtskulpturen oder ein später Wolfgang Laib und seine Hügel aus natürlichen Substanzen) an die Grenze der Vereinfachung stieß, dem zeitgenössischen naturalistisch-methodischen Produzieren von Arte Povera (die schmucklosen, verwachsenen Holzskulpturen von Penone, Pistolettos Entsakralisierung der Plastik) gegenübergestellt. Selbst das leise, mit elektronischen Klängen durchsetzte Raunen der Stimmen lässt vermuten, dass nebenbei eine Aktion im Geist von Fluxus und all dessen vermeintlicher Transversalität stattfindet. Darin ist ein vertrauter Weg zu erkennen, aber auch die Ungewissheit darüber, wohin er uns führen wird.

Nun beginnt der Tanz: zunächst zurückhaltende Positionswechsel, die zunehmend funktional werden, spürbar pragmatisch, ohne jegliche Virtuosität, repetitiv und vereinfacht. Er ist ambivalent, aber kontinuierlich zu lesen: Er ist stets natürlich und folgt der Logik menschlicher Alltagsbewegungen, hat aber zugleich auch etwas Künstliches – etwas Mechanisches und Programmiertes. Der Holzstab übernimmt beinahe die Rolle eines Zepters und wird von Hand zu Hand weitergereicht: Wer ihn hält, bricht mitunter aus, stellt sich an den Rand, findet eine andere Bewegung, spaltet sich ab. Es entsteht eine bläuliche, amöboide, zelluläre oder einzellige Kreatur, eine mögliche Abschrift einer neuen Entwicklung, biotechnologisch und schaltkreisförmig, aber auch mit dem Meer und dem gemeinsamen Ursprung der Evolution verbunden. Ihre Zerstückelung dient einer Art Anrufung: eine authentische elektronische Trance, rötlich, progressiv, in einer hektischen atavistischen Wendung, beunruhigend in ihrer langsamen Entwicklung, in der aufgeschobenen Angst vor ihrer Befreiung, aber auch auf banale Weise mechanisch, wie die Federn einer Maschine oder ein endloser Rendering-Prozess. Es wird ständig sowohl auf das Archaische und Atavistische als auch auf das neue Mechanische und Technologische Bezug genommen. Der dazwischenliegende Rest des Natürlichen scheint der Ursprung von Uneinigkeit zu sein. Es ist weniger ein Widerstand als vielmehr ein Entwurf dafür, wie ein mögliches, vielleicht erzwungenes Zusammenleben funktionieren könnte.

Mette Ingvartsens Herangehensweise an die aktuelle Situation menschlichen Zusammenlebens, vermeintlich abstrakt und einigermaßen neutral, mit Abstand betrachtet und versöhnlich, aber nicht völlig konfliktfrei, hinterlässt ein anhaltendes Gefühl: Es scheint uns zu warnen, dass in unserer Lage weder Veränderung noch Fortschritt endgültig sein werden. Egal wie viel uns die Zukunft verspricht, es gibt einen allgegenwärtigen Kern, ein unveränderliches, uraltes, rudimentäres und abgekoppeltes Bewusstsein, das alles, was Menschen hervorbringen, durchdringt und mit deren Wesensart verbunden ist, das uns heimlich leitet und verspottet oder gar jeglichen Versuch einer Sublimierung sabotiert.

 

[1] Umberto Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt am Main 1994 (Apocalittici e integrati: comunicazioni di massa e teorie della cultura di massa, Mailand 1964).

 

Guillermo Espinosa (La Laguna, Teneriffa, 1975) ist ein spanischer Journalist, Wissenschaftler und unabhängiger Kurator für zeitgenössische Kunst. Er ist bekannt für seine Artikel und Interviews zu verschiedenen Themen wie zeitgenössische Kunst, Literatur, Fotografie, Kino, Mode und Tanz. Darüber hinaus hat er einige gemeinnützige, unabhängige Kunsträume mit Fokus auf ortsspezifische Kunst und Performances geschaffen. Er lebt und arbeitet in Madrid.

 

 
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