Gegen die Gegenwart
Zwei Produktionen, die in ihren künstlerischen Ausdrucksformen und Sprachen unterschiedlicher nicht sein könnten, verbindet nicht nur der gemeinsame Online-Auftritt am Eröffnungsabend des Festivals für „Choreografie und Performance einer neuen Generation“, sondern auch die gemeinsame Herausforderung, einer Gegenwart, die alles wissen will und in der Regel auch vorgibt, bereits alles und fast genug zu wissen, eine Entgegnung, einen Widerstand, ein Gegenbild, ja ein Gefühl von Gegenkultur gegenüberzustellen – diese Gegenwart mit einem Gegen zu konfrontieren, das in der „Gegen-wart“ dem Währenden im Gegenwärtigen gegenübertritt. Eine den beiden Produktionen gemeinsame Entgegnung besteht darin, der vermeintlichen Sinnhaftigkeit dieser politisch und ökonomisch verteidigten Gegenwart den Kampf anzusagen, in dieser Gegenwart selbst die Gegnerin zu erkennen. Sunset Z von Julia Zastava und Funkenstein von Kidows Kim sind Kampfansagen an diese Gegenwart.
Die Metaphorik der mittelalterlich geformten Kettenhaube, mit der Zastava als Performerin ihren Kopf bedeckt, spricht für sich selbst, für die Vermutung, dass es hier etwas zu verteidigen, zu schützen gibt im Kampf gegen einen entstellten Anspruch auf Sinn. Ihre mit Flügeln und Krallen bestückte Jacke, das schwere Schuhwerk und ein Schwert, das sie im Lauf der Performance zur Hand nimmt, reiten nicht zuletzt vom Geräusch galoppierender Pferde begleitet dieser Gegenwart entgegen. Viele ihrer Motive hat Zastava schon in ihren Zeichnungen zu Papier gebracht, um sie nun für die Performance dreidimensional werden zu lassen und in einen Raum einzuschreiben, den sie mit Videoprojektionen, Licht- und Nebeleffekten sowie mit einer Reihe von Wesen und Gebilden, die sich klaren Zuordnungen entziehen, inszeniert. Was sind diese Motive, angesiedelt zwischen Natur, Lebewesen, Traumgebilden und Ding? Aus der Physiognomie eines Laubhaufens blinken zwei Augenlichter, Fragmente von Tierschädeln und Händen lauern am Boden, daneben ein aus den Wörtern „Deep Angel“ gebildeter Kreis, der einen auf die Wand projizierten Feuerkreis kommentiert wie ein Titel, dem es gleichgültig geworden ist, worauf er sich beziehen soll. Dazu ertönt Sound (gemeinsam mit Lucas Henao Serna), der Klang eines Motorrads, das Summen von Fliegen, das Geräusch klirrender Gläser, das Klingeln von Geld und der Summerton eines eingehenden Anrufs. Die visuelle Phantasmagorie der Inszenierung ist in ständigem Dialog mit einer akustischen Gegenwart, die sich versatzstückartig zu Wort meldet. Es klingt nach Straßenverkehr, wieder ein Anruf, den niemand annimmt, eine Anrufung, ein Drängen, ein Appell, den niemand hört, ein Scheitern, ein Aufbegehren, der Griff zum Schwert, mit dem ein Herz aufgespießt wird, um es im Feuerkreis zu grillen. Ein Kampf mit Wesen und Gebilden, für die es keine Namen gibt, keine passenden Namen, die beschreiben könnten, was man rausschreien wollte. Ein Kampf mit einer Gegenwart, die nicht hören will, bedeutet auch einen Kampf mit sich selbst, mit einer Stimme, die zum Singen ansetzt, zu einem Singen für sich selbst, einem Singen, das die Angst und die Zeit überwinden soll, das Bellen von Hunden ist noch im Ohr, das Echo einer verzerrten Stimme … Alles, was wir hier hören, sehen und wiederzuerkennen meinen, entzieht sich einem Sinn, der für diese Gegenwart sinnstiftend sein sollte, ein Narrativ dafür liefern sollte, worum es denn ginge. Gegen all dieses Wissen, gegen den Anspruch, (fast) alles zu wissen, wird eine Kampfansage gemacht, es ist ein Kampf mit dieser Gegenwart und gegen diese, ein Kampf für die Momente, die ungehört bleiben und ausgegrenzt werden.
Die Tatsache, dass Zastava die geplante Performance aufgrund der COVID-Situation in ein Online-Format übersetzen musste, hat ihr ermöglicht, die Kamera (gemeinsam mit Lucas Henao Serna) selbst als Akteurin zu verwenden und über eine Blick- und Schnittregie eine Perspektive zu inszenieren, die einem vor Ort anwesenden Publikum vorenthalten bliebe. Die Kamera dokumentiert die Arbeit nicht, sondern agiert anstelle des Publikums. Sie definiert neben dem Sound eine weitere Ebene, ermöglicht, mit dem Zoom ganz nah an Details heranzukommen, sich Zeit zu nehmen, auf Details zu achten, auf die Übergänge zwischen den Namen, die man Dingen geben würde, und den Formen, die sich von deren Bedeutung emanzipieren. Weit davon entfernt, die Performance aufzuzeichnen, übernehmen alle Momente des Stücks die Rolle von Performer*innen: die Gebilde und Gegenstände, die Kameraführung, Schnitt, Sound, Licht und die Künstlerin selbst, die sich langsam durch den Raum bewegt und immer wieder innehält, bei einer Geste, einer Pose, die ans Bild appelliert, an ein Sehen, das über das Begriffliche hinausgeht, über eine Gegenwart hinaus und auf einen Ausgang zu, der als „Designed by Aliens“ ausgewiesen wird.
Diese Perspektive des Aliens, das Gefühl einer radikalen Entfremdung im Angesicht der Gegenwart, charakterisiert auch Funkenstein von Kidows Kim, der sich als „hidden monster“ vorstellt, das in diese Gegenwart gestürzt ist – „crashed down on an untouched land“. Anders als in Zastavas raumzeitlicher Phantasmagorie ist es hier die bloße Ecke eines Raumes, im Vordergrund begrenzt von den Rippen zweier Heizkörper, an der rechten Wand ein Kalender aus dem Jahr 2019, der aber „Good Luck Every Year“ verspricht. Die Kamera verfolgt das ganze Stück unbeweglich aus einer Perspektive, wie ein*e Zeug*in, die im Laufe der Performance auch direkt angesprochen wird – „Look at me. … You know me, you know me well … Do you know why I tell you this?“. Eine mit einem Nylonstrumpf überzogene Hand und ein mit einem Nylonstrumpf überzogener Kopf mit verknoteten Zöpfen entziehen den Performer der Kenntlichkeit, transformieren ihn ins„Monster“, das sich über eingeblendete Texte an sein Gegenüber wendet. Das Geräusch technisch entstellten Saugens, Kauens, Kratzens und Schmatzens liefert die Stimme für diesen „unsagbaren“ Text, der die Performance wie ein innerer Monolog begleitet, wie ein Denken, das niemand hören mag, niemand verstehen kann, selbst das Monster nicht, dem alles fremd und befremdlich erscheint, was es umgibt – „a damp and pungent smell dominates the world, this place is full of dirty air“. Unsichtbar, „I am transparent in the multicolored crowd“, tastet sich der Performer in den Raum und die Ecke, jede Bewegung scheint danach zu fragen, was denn dieser (eigene Fremd-)Körper ist, der sich da bewegt, sich wundert, an einem Ort, der zwischen Versteck und Verlies hin- und herpendelt. Kidows Kim spürt in seiner Performance dem Körper genauso nach wie dem Raum, in dem er sich (be-)findet und sein Befinden untersucht. An jeder Geste haftet genauso viel Suchen und Versuchen wie Bemühen, der Verwunderung nicht mit vorschnellen Antworten Einhalt zu gebieten. Wie das Monster dem lateinischen „monstrare“ verbunden ist, dem Akt des Zeigens, sollte sich die Befindlichkeit eher „zeigen“, als mit einem Wort beschrieben zu werden. Wie die „De-monstration“ einen politischen Widerspruch zeigen soll, indem sich die Menschen versammeln und mit ihren Körpern „zeigen“, wie ihre Wörter nicht gehört oder verstanden wurden, so „demonstriert“ Kidows Kim die Sollbruchstelle, die sein Empfinden von der vermeintlich maßgeblichen Gegenwart und deren Beredsamkeit trennt. Diese Trennung wird nicht zuletzt mit dem Hinweis auf ein Verlassenwordensein, auf das Ende einer Beziehung in Verbindung gebracht: Was vom Ende übrig bleibt, ist das Gefühl, nichts zu verstehen, ein Unverständnis, das der Gegenwart angemessener erscheint als jeder Versuch, sie zu verstehen. „It is because of him, my fucking Francisss … erasing me from his heart … I still want him.“ Das Monster oder Monströse, das Kidows Kim zur Erscheinung bringt, wird in diesem Bogen der Gegenwart selbst zugesprochen.
So unterschiedlich die Arbeiten von Julia Zastava und Kidows Kim erscheinen, so gemeinsam ist ihnen die Kampfansage an eine Gegenwart, deren Versprechungen und Sinnansprüche sie mit einer Sprache konfrontieren, die sich weigert, das nächste Narrativ beim Namen zu nennen. Für eine Kritik an dieser Gegenwart wäre das bloße Plädoyer für ein Korrektiv, für eine andere Erzählung zu wenig. Mit ihren Arbeiten an den Grenzen der Produktion von Sinn zerren sie an der Figur des Erzählerischen selbst, mithin an dem Punkt, an dem das eigentlich Performative in der Performance beginnt.
Andreas Spiegl studierte Kunstgeschichte an der Universität Wien und lehrt und forscht als Senior Scientist am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Akademie der bildenden Künste Wien, das er seit 2016 leitet.
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