TQW Magazin
Susanne Songi Griem über To Sing The Wind, Pipes and Bones, A Dance Choral von Alix Eynaudi / PARASOL

Gemälde eines Chorals

 

Gemälde eines Chorals

Auf Wikipedia steht: „Ein Choral bezeichnet ursprünglich die einstimmige vokale Kirchenmusik der westkirchlichen Liturgie.“

TOR Auf dem Umschlagpapier steht in Handschrift: „To Sing The Wind, Pipes And Bones, A Dance Choral. Alix Eynaudi, Camilla Schielin, Júlia Rúbies Subirós, Shahrzad Nazarpour, Theresa Scheinecker, Alex Bailey, Han-Gyeol Lie, Paul Kotal, Krisha Piplits, An Breugelman.“

Camilla und Alex teilen am Eingang zur Halle ein Beiheft zum Abendprogramm aus. Tagebuch der gemeinsamen Zeit: „Please fold your time slowly near me.“

In einer Probe, bei der ich vor einer Woche zu Besuch war, haben sie in Bücher geschaut, den PVC-Boden angehoben und sie darunter versteckt. Der Tanzboden war Tasche zum Verstauen von Text, eine Bibliothek wuchs aus dem Boden. Es geht los. Die Tänzer*innen sammeln sich in handgenähten Kleidern um den quadratischen weißen Tanzboden auf der Bühne, und ich denke an Renaissancegemälde.

SCHNEE Das Klavier malt eine Schneelandschaft. Es kann tanzen. Es glitzert, knurrt, stottert, springt, wiegt, trauert, stolziert und pausiert abwechselnd oder gleichzeitig mit nebeligem oder punktiertem Rauschen aus den Boxen. Das E-Piano auf Rollen ist an lange schwarze und weiße Kabeln angeschlossen. Es wandert am Rand zwischen dem großen weißen Tanzboden in der Mitte und dem schwarzen Holzboden an den Seiten der Bühne entlang. Die Farbpalette der Klaviertasten macht sich im Raum breit. Ich denke: Schwarz mit Weiß ist nicht Grau, sondern Rhythmus.

PERSPEKTIVE Theresa zieht am Beginn eine Lederente diagonal durch den Raum. Ich denke an meine gestreifte Tigerente aus Holz von früher. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Tiger und Bär ein schwules Paar sind. Das hier ist eine andere Geschichte aus einer anderen Welt. Alice im Wunderland: Die Augen der Ente leuchten grün. Weiter vorn durchquert ein Rollbrett einsam und bestimmt den Raum – genau an der Stelle, an der das Klavier dunkel und tief spielt. Später zieht Shahrzad mit den fehlenden Klavierpedalen am Kabel, wie mit schwarzem Teer, einen Pfad auf dem weißen Boden. Ich denke an ihren Haartanz am Schillerplatz vor ein paar Wochen.

SONNTAGSAUSFLUG Ein buntes Bild um Júlia auf Rollschuhen: Die Ruhe einer Eiskunstläuferin, die am Ende eines langen Tages die letzte Stunde auf dem Eis für sich allein genießt. Das Licht um sie wechselt, ein Schnelldurchlauf der Lichtstimmungen von Elizabeth Wards Hedera Helix: Ein Besuch im Park, der Winkel der Sonne ändert sich, sie rollt vorbei an einem grünen See, gelben Straßenlaternen und einem blauen Wald. Ich sehe Júlias kräftige Beine und denke an das Vienna Roller Derby und dass ich dieses Jahr wieder bei keinem Spiel war.

HERZBLATT UND FENSTER Dann stolpert plötzlich eine Herz-Dame aus dem Backdrop, und wir sehen durch einen Ausschnitt in in Leibniz-Keks-Form Alex‘ Brustkorb. Neben der Herz-Dame ein Hund in schwarzem Leder (bist du das, Shahrzad? Ich komme bei den Kostümwechseln nicht mehr mit), und beide verschwinden schnell wieder dorthin, woher sie gekommen sind. Überhaupt sind überall Schnitte und Fenster in den Kostümen: Der Stoff hat Karo-Cut-outs oder ist halbtransparent und legt das Becken frei. Hinter einem geplätteten Kaktus hervor singt Alex in den gebrochenen, gesprenkelten Raum. Seine Stimme ist gemischt mit Rauschen und Klavier, es wird mir unheimlich zumute.

JUGEND Camilla tanzt. In Lip-Sync rollt sie sitzend über die Bühne. Ein kurzer Zoom in das intimste Selbstgespräch im Schlafzimmer, in Kimono oder Pyjama. Ich merke, ich erinnere mich an kein Wort, das sie mit ihren Lippen formt. Nur an den Blick, den sie uns von verschiedenen Orten der Bühne zuwirft. Sie sieht uns. Mit ihr ändert sich der Tanz: Ihr seht euch jetzt an, nicht zu, Theresa und Júlia schmelzen wortwörtlich ineinander. Keine Kanten, wie Theresa sie anfangs mit ihren Händen um ihr Gesicht geformt hat, weniger Wörter.

In der Probe letzte Woche hat Alix mit Alex (ich wollte unbedingt einmal beide Namen hintereinanderschreiben) über die Verlängerung der Bewegung seiner Arme gesprochen. Es ging um die Stelle, an der er dem Publikum die goldene Maniküre zeigt. „Da ist noch viel mehr Raum, als du denkst: Von den Schultern aus kann der Ellbogen weiter aufgehen, die Energie fließt von unter deinen Fingernägeln heraus.“

 

Susanne Songi Griem ist eine in Wien lebende deutsche Performance- und bildende Künstlerin. Ihre erste Arbeit für die Bühne, Fisch und Schwan in Negligé, feierte 2021 ihre Premiere als Reise durch eine lebendige Anti-Wunder- und Erinnerungskammer. Im Jahr 2022 folgte der Spaziergang bei Nacht, ein akustisches Duett mit Pete Prison IV. Susanne Songi hat in verschiedenen Konstellationen für performative Arbeiten im öffentlichen Raum unter anderem mit Alexandra Pirici, Scarlet Yu und Xavier Le Roy zusammengearbeitet sowie in selbstorganisierten Gruppen wie Gruppe Bussi und Perilla.

 

 

 
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