TQW Magazin
Denice Bourbon über MANIFESTATIONS von Marta Navaridas

Get a Lust for Life!

 

Get a Lust for Life!

Danach ist es in fast allen Gesichtern zu sehen. Die Leute verlassen den Ort mit einem breiten Lächeln im Gesicht; so fühlt sich Glücklichsein an! Joie de vivre! Genuss! Ich treffe eine alte Bekannte, und sie sagt, dass ihr die Wangen vor lauter Lächeln wehtun. Ich sage: Gell?! Geht mir genauso. Ich habe mein Gesicht massieren müssen, weil es sich so angefühlt hat, als wäre mein Lächeln im besten Sinn des Wortes eingefroren!“

Ab und zu lachen wir natürlich auch laut. Aber vor allem lächeln wir. Wann habe ich das letzte Mal 70 Minuten lang gelächelt? Lächeln wir jemals so lange? Ich frage mich, wie wir wohl auf die Performer*innen gewirkt haben (wenn sie uns bei dem Licht der Scheinwerfer überhaupt sehen konnten) mit unseren 130 auf sie gerichteten grinsenden Gesichtern. Irgendwie beängstigend, oder? Monströs und absurd. Wie im Soundgarden-Video zu Black Hole Sun. Oder noch schlimmer: in Come to Daddy von Aphex Twin. Nicht auszudenken. Wie unangenehm. Trotzdem gibt es in dem Stück keine Sekunde Unbehagen und auch keine Sekunde Langeweile, kein von den Stühlen geplagtes Sitzfleisch und keinen Blick auf die Uhr mit der Frage „Wie lange denn noch?“ im Kopf. Und zu kurz ist es auch nicht. Obwohl es durchaus einige Rufe nach einer „Zu-ga-be! Zu-ga-be! Zu-ga-be!“ gibt, nachdem das Stück vorbei ist. Was noch etwas Ungewöhnliches ist an dieser Erfahrung. Menschen, die sich anders verhalten als üblich. So witzig. Wie könnte in so einem Kontext eine Zugabe überhaupt funktionieren? Eine Szene wiederholen? Oder eine zeigen, die es nicht in die Endfassung geschafft hat? Später erzählt mir Marta Navaridas, der Kopf hinter alldem, dass sie mehr als 200 Stunden an Aufnahmen hat. Es wäre also eine Menge Material vorhanden. Apropos aufgenommenes Material: Darauf basiert dieses Stück. Die Performer*innen wurden ausgeschickt, um Erfahrungen zu sammeln: fühlen, riechen, hören … Und dann wurden ihre Reaktionen aufgenommen, und die Sounddateien wurden über ihre Kopfhörer abgespielt, und sie haben uns, dem Publikum, erzählt, was sie hören. Die Wiedergabe der Aufnahmen war also „live“. Versteht ihr, was ich meine? Ja, das tut ihr. Ihr seid schlau. Aber zurück zu der Vorstellung, dass sie unser grinsendes Grinsen sehen; wir schauen in Richtung der Sitze, auf denen wir normalerweise in der Halle G sitzen. Der Raum ist umgedreht, was zuerst den Eindruck erzeugt, als wären wir auf der Bühne und die Performer*innen im Publikum. Sie balancieren auf den Sitzen und gehen rückwärts, schwenken große, große Fächer, und wir hören das „Wusch! Wusch!“-Geräusch, das dabei entsteht. „Bitte nicht hinfallen!“ zieht sich als Mantra wie eine Decke über meine Gedanken.

„Sie hätten ein Spiel daraus machen sollen: ‚Ratet mal, wo wir waren und was wir getan haben‘“, sagt meine Freundin nach der Show, während wir in der Schlange auf unsere Mäntel warten.

Zuerst gebe ich ihr recht, dann ändere ich meine Meinung: „Überhaupt nicht! Gar nicht nötig! Es spielt keine Rolle, was sie gemacht haben, es hat meine eigenen Erinnerungen wachgerufen, ich habe an meine Hochschaubahnfahrt gedacht, an meine Angst und Aufregung, wie ich auf diesen einen Baum geklettert bin, und an meinen Spaziergang im April auf dem Land in Niederösterreich, vorbei an der Scheune voller Milchkühe.“ Mir scheint, diese Assoziation wurde von einem der Performer*innen ausgelöst, wie er gesagt hat, dass er eine Mischung aus Bauernhof und Karamell riechen kann, und ich habe innerlich „Bingo!“ geschrien. Nach über vier Jahrzehnten, in denen ich nicht genau sagen konnte, was für ein Geruch das ist. Es ist Karamell!! Das ist es!! Niemand von den Leuten, mit denen ich mich danach unterhalte, gibt mir recht, was den Karamellgeruch angeht. Eigenartig.

Ich schätze, das macht uns beide jetzt zu speziellen Riech-Buddies.

Noch ein „Wusch!“ zischt durch Saal. Ein wunderschöner Lamettavorhang rollt sich von der Decke herab. So ein Lametta habe ich noch nie gesehen. Das muss ich unbedingt haben! Es ist einfach traumhaft! Es sieht aus wie die Ölflecken in den Regenpfützen auf dem Parkplatz aus meiner Kindheit. Damals, in den 1980er-Jahren, als ständig Öl aus Autos getropft ist. Diese Flecken waren so schön, sie haben aus allen Farben bestanden und in der Sonne geleuchtet. Sommerregen. Der Lamettavorhang sieht aus wie der Sommerregen aus meiner Kindheit. Als wir „eine glänzende Zukunft vor uns“ hatten. Die Zukunft, die darin bestanden hat, am nächsten Tag mit unseren Fahrrädern auf unbefestigten Straßen zum See hinunterzufahren. Und während meine Gedanken ins Jahr 1984 driften, eine Zeit, in der Hitzeflimmern über dem Asphalt nicht Klimakrise, sondern glückliche, heiße Sommer bedeutet hat, entsteht eine Art Wasserrutsche auf dem Boden, und dann rutschen sie auf ihren Bäuchen und in G-Strings gehüllten Hintern dahin. Da ist es wieder: Ein Gefühl purer Freude läuft mir wie ein angenehmer Schauer über den Rücken. „Wusch!“ Von der Gerüstplattform auf der linken Seite wird ein laaaaanges Stück Stoff abgesenkt, das zu einem Kleid für die Operndiva umfunktioniert wird, deren unglaubliche Stimme den ganzen Saal einnimmt, sich ihren Weg durch unsere Poren in unsere Körper bahnt und auf unserem Blut durch unsere Adern surft. Bin ich high? Es fühlt sich so ähnlich an, wie wenn die Wirkung von Ecstasy einsetzt. Soweit ich gehört habe. Von Geschichten darüber, wie es sich anfühlt. Natürlich. „Das ist Science-Fiction“, kommt mir in den Sinn. „Das ist die Art von Science-Fiction, die mir gefällt!“ Ja! Science-Fiction ohne Dystopie. Ich kann dystopische Geschichten, Filme, Bilder, Gespräche, Gedanken nicht ausstehen. Ich hasse sie. Aber das hier, die unglaublichen Klanglandschaften und die Musik in Kombination mit der Choreografie, die perfekt zu diesen Körpern passt – das fühlt sich futuristisch an, wie in einer guten, glücklichen Zukunft. Wo wir nicht, wie festgefahren, immer das Schlimmste in allem sehen. Einen Moment lang vergesse ich, dass niemand mehr sagt: „Wir haben eine glänzende Zukunft vor uns! Die Erde ist nicht so krank, und es gibt nicht nur egoistische, entitlete Arschlöcher.“

„Ach komm schon, Denice, das ist eine Menge großer Worte für eine 70-minütige Performance.“ Natürlich denkt ihr das. Wir sind so sehr gewohnt, dass wir aus einer üblen Situation nicht das Beste machen dürfen. Wir sollen uns einfach mit einer Schicht Zynismus einreiben, weil: Glücklichsein ist was für Hippies.

„Verdammt, ich liebe Performancekunst!“ war tatsächlich mein erster und letzter Gedanke während dieses Abenteuers. Das sage ich jetzt nicht nur so für diesen Text.

Bevor wir in kleinen Gruppen den Saal betraten, drängten wir uns an einem kalten Februarabend ohne unsere Mäntel eng zusammen und warteten darauf, dass uns der Lastenaufzug ins Untergeschoss beförderte. Kalter Atem und Erwartung lagen in der Luft, und es fühlte sich an, als würden wir zu einem Clubbing im Club Utopia gehen. Und die, die dafür offen waren, taten das auch.

 

Denice Bourbon ist eine lesbisch/queerfeministische Performancekünstlerin, Sängerin, Autorin, Moderatorin, Kuratorin, und Stand-up-Comedian. Sie nutzt Humor und Unterhaltung als aktivistische Mittel, um auf politische Themen aufmerksam zu machen. 2017 hat sie den Queer Comedy Club PCCC* mitgegründet, den sie seit 2020 als Moderatorin, BüroGenie und ComedyMother alleine leitet.
Denice ist laut, prüde und ziemlich dekadent.

 

 
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