TQW Magazin
Lewon Heublein über into (quickening ground) von Camilla Schielin

Ghostly Gestures

 

Ghostly Gestures

Und es beginnt im Nacken des Publikums: Ein Song, eine Stimme, eine Karaokenummer erklingen von hinten. Hälse drehen sich um, aber nicht alle können sehen, woher die Musik kommt und nur wenige können in den ersten Minuten von into (quickening ground) ein paar Blicke auf Camilla Schielin erhaschen. Doch die suchenden Kopfbewegungen machen klar: Etwas kaum Sichtbares ist im Raum, etwas aus der Vergangenheit, das noch nicht ganz abgeschlossen ist. Der Song mit dieser bitteren Melancholie könnte von Lana Del Rey stammen, ist aber knapp 30 Jahre alt: Little Trouble Girl von Sonic Youth. Verspielt und verspult singt Camilla diese Coming-of-Age-Story über rebellische Außen- und Selbstwahrnehmung.

Kim Gordon, nicht nur wegen Sonic Youth eine Ikone, deren Aufgewecktheit und musikalische Abenteuerlust mit dem Alter stetig gewachsen ist, teilt ihren Nachnamen mit der Theoretikerin Avery F. Gordon. In Ghostly Matters: Haunting and the Sociological Imagination untersucht diese unsichtbare Dimensionen des sozialen Lebens, die sich als „Geister“ und Hinweise auf Leerstellen manifestieren. Imagination, das Fantasieren, ist ihr zufolge notwendig, um diese unsichtbaren Dimensionen des Sozialen erkennen zu können, um mit diesem Nicht-ganz-Vergangenen leben zu lernen. Eventuell ist das auch eine der größten Stärken von Tanz: Unsichtbares flüchtig wahrnehmbar und vor allem vorstellbar zu machen.

Während Kim Gordon verklingt, schreitet Camilla nach vorn auf die Bühne und blickt ins Publikum. Was bleibt, sind Vogelgezwitscher und das Rascheln von Bäumen. Wir sind in einem Garten oder auf einem Feld, auch die Schürze mit detailreichen Prints, die Camilla trägt, deutet darauf hin. Dann auf einmal absolute Stille. Richtige Stille. Wie in der Schlüsselszene des Films Memoria wird jedes Hintergrundgeräusch ruckartig entfernt. Alles liegt brach, wird porös. Allein der Körper und seine Präsenz füllen den Raum, starren zurück. Erinnerung an verloren geglaubte Zukünfte bahnen sich in dieser Leerstelle langsam an, während Camillas Finger allmählich über den Boden streifen, vorsichtig den Sand der Zeit aufwirbeln. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermengen sich unscheinbar, brechen Linearitäten auf, werden auf dem Rücken wie ein unsichtbares Baby hin und her geschaukelt. Für Avery F. Gordon sind Spukerscheinungen oft mit Fragen der Macht und der sozialen Ungerechtigkeit verbunden. Sie deuten auf kollektive Traumata hin. Geister bedeuten also Trouble, aber auch Widerstand.

In der Ferne deuten sich Gitarrenklänge an, die teilweise rückwärts abgespielt werden und sich vorsichtig über die Szene legen. Ein langsamer Rhythmus scheint sich in Camillas Körper auszubreiten. Etwas kaum zu Greifendes und doch Vertrautes: „phantom dances“. Sie scheint fast schwerelos in diesen Momenten, bevor sie sich der Tribüne nähert. Ein Griff unter die Sitzreihen, nach etwas, das darauf wartet, ausgegraben zu werden. Zum Vorschein kommt ein Werkzeuggürtel aus Stoff. Auf dessen Tasche ist ein Herz gedruckt, in der Mitte steht „Hole“ – das Logo der Band von Courtney Love. Eventuell ist sie das Spirit-Animal dieser Choreografie und mahnt, dass nicht immer die gleichen Tätigkeiten und Charaktere in unserer Erinnerung sichtbar bleiben sollten. Auch ein Spaten wird kurz darauf aus seinem Versteck geholt und langsam über den Boden gezogen, um das Brachland umzugraben. Das, was unter der Oberfläche ruht, macht sich bemerkbar, verlangt Aufmerksamkeit.

Ein metallischer Sound klingt aus weiter Ferne, wie vom Smartphone abgespielt. Die nun ausformulierten Bewegungen, die sich schon früh im Stück angedeutet haben, referieren auf Tecktonik, einen Tanzstil mit Versatzstücken aus Voguing, Breakdance, Waving und Glowsticking. Dieser ist in Frankreich entstanden und hat als YouTube-Phänomen in den 2000er-Jahren Bekanntheit erlangt. Oft folgt hier eine Hand geometrisch der anderen, streift in Rundungen über den Kopf, rotiert hypnotisch um die Armgelenke. Der Name des Tanzes verweist auf die Erdplattenverschiebung; die Tektonik, die Kontinente kollidieren, Gebirge und neue Landschaften entstehen lässt. Doch sehr langsam, kaum für uns wahrnehmbar, wie von Geisterhand bewegt, legen sich die Schichten aufeinander. Das Motiv der Schichten spiegelt sich im Bühnenraum, mit den Verstecken unter den Sitzplätzen und dem Setting, das trotz der minimalen Mittel an eine Landschaft erinnert. Auch die Schürze, die aus verschiedenen Patches besteht und auch ein Bandshirt als Kleid sein könnte, verweist auf diese Schichten, die auch immer die Manifestation von überlappenden Zeitlichkeiten sind.

Ein schneller Bass mischt sich in den Rhythmus, vorbeifahrende Autos, aus deren Radios Madonna – die nächste Ikone – rauscht, Schnürsenkel werden wiederholt zurechtgezogen. Der Außenraum dringt in den Theaterraum und mit ihm Alltäglichkeit. Es sind angedeutete Nicht-Orte, die Camilla besucht, Orte, an denen man sich nur peripher aufhält, an denen man vorbeizieht. Die Tecktonik-Bewegungen werden ausladender, breiter, intensivier während Camilla auf einem kleinen Podest – der nächsten Schicht – tanzt. Elizabeth Fraser singt. Fast mädchenhaft klingt die Stimme der 60-jährigen Musikerin, die in den späten 1980er-Jahren mit den Cocteau Twins berühmt wurde. Die Referenzen auf all diese Frauen, die sich nicht den Erwartungen an ihr Alter unterwerfen, diese stattdessen untergraben, sind codiert: Diese Ikonen haben sich der Zeit widersetzt, markieren mal mit Punk, mal mit Pop andere Frauenbilder und eröffnen, fast schon nebenbei, andere Perspektiven auf Geschlechterrollen. Durch das Spiel mit Feminität bricht diese auf, wird fruchtbarer Boden für neue, unangepasste Identitäten in der Zukunft.

Fast stoisch blickt Camilla ins Publikum, wie in Trance kreisen ihre Arme; durch ihre Haare hindurch glänzen goldene Ohrringe. Into (quickening ground) fragt nach dem Zusammenhang von Besetzen und Besessenheit und somit auch nach Besitz. Fragen nach Erbe, materiellem oder genetischem, drängen sich auf. Fragen nach Machtverhältnissen zwischen Geschlechtern und auch danach, welche unerzählten Biografien und Hinterlassenschaften unsere eigene Geschichte prägen. Das Leben unserer Großmütter, ihre unbezahlte und ungewürdigte Care-Arbeit werden Puzzleteile dieser Geistergeschichte, die keine Ansammlung von rein individuellen Erfahrungen, sondern in gesellschaftliche Strukturen eingebettet ist.

Am Ende wird sich Camilla den zwei Vorhängen, einer schwarz, einer weiß, nähern. Sie deuten ein Dahinter an, einen Raum, der noch „undiscovered“, also unentdeckt ist. Wo Vorhänge sind, ist auch die Bühne nicht weit. Sie markieren diesen konkreten Ort, an dem wir uns befinden. Posen, glamourös und divenhaft, angedeutet und aber auch explizit, entstehen. Doch auch die Ikonen werden eingeholt, sanft heimgesucht. Alltägliche Gesten tauchen kurz wieder auf, machen sich bemerkbar in Larger-than-Life-Momenten. Sie lassen den Körper nicht vergessen, dass unter jeder Geste eine andere schlummert, dass die Geste nur Geste sein kann, weil eine andere in diesem Moment abwesend ist. Es spukt. Nicht nur auf diesem Brachland, sondern auch in uns.

 

Lewon Heublein lebt in Wien, hat Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert und arbeitet als Autor und Kurator. Neben seiner Tätigkeit als Ko-Herausgeber des PW-Magazine kuratiert er am Tanzquartier Wien das Nachwuchsfestival Rakete und das Musikprogramm.

 
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