TQW Magazin
Eva Sangiorgi über Jerk von Gisèle Vienne

Geister im MuseumsQuartier

 

Geister im MuseumsQuartier

Die Erinnerung an neulich Nacht lässt mich nicht los. Es ist ein regnerischer und windiger Abend, als ich im TQW Studio ankomme. Ich kenne das komplexe Stück der Choreografin und Regisseurin Gisèle Vienne über eine schreckliche Mordserie in Texas in den 1970er-Jahren. Ich schätze Viennes Arbeit, bin gespannt und freue mich auf die Veranstaltung. Es wird dunkel im Raum, und die Leinwand leuchtet auf. Etwa eine Stunde lang zieht sie meine gesamte emotionale Aufmerksamkeit auf sich. Der Schauspieler und Puppenspieler Jonathan Capdevielle ist David Brooks. Mit seinen Händen und seiner Stimme und noch einer anderen Art von Magie haucht er den weiteren Figuren Leben ein: den Mördern wie den Opfern. Brooks und Wayne Henley, ebenfalls ein Teenager, waren Komplizen des Serienmörders Dean Corll. Nach einer zahmen Einleitung stürzt sich Capdevielle mit heftiger Intensität in die Geschichte und beschreibt deren komplexere Aspekte, die auf unerklärliche Weise einer menschlichen Verletzlichkeit anhaften, die sich im Prozess der Wiederholung in etwas Ungeheuerliches verwandelt. Die Performance ist außergewöhnlich. Der Schauspieler setzt seinen Körper ein, um die Ereignisse darzustellen; er deutet die dunklen Mächte und Motivationen an, von denen die drei Männer möglicherweise gequält werden. Capdevielle liefert sich dem Publikum völlig aus: Seine Hände, seine Stimme, sein Atem, sein Speichel, sein Schweiß dienen ihm als Werkzeuge. Die Kamera ist frontal auf ihn gerichtet, betrachtet ihn wie ein Publikum; aber dann kommt sie näher, analysiert ihn, untersucht ihn im Detail – zuerst von vorn, dann von der Seite und dann von hinten. Die Kamera gestaltet den Rhythmus des Stücks mit und begleitet die Handlung, die sie vorantreibt. Dann beobachtet sie erneut den Mann, nachdenklich und regungslos, wie ich. Die Leinwand fungiert weiterhin als Vermittlerin und hilft mir dabei, wieder zu mir zu finden – aber die Wirkung ist enorm.

Ich bin beeindruckt vom Mut dieser Arbeit, von der Art und Weise, wie sie diese Themen angeht – diese Erinnerungen – über das bloße Erzählen der Ereignisse hinaus. Sie beschwört die Geister der beteiligten Gewissen herauf, deren Albträume durch unerklärliche sadistische Begierden in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. Die Puppen dienen als Barriere gegen die Grausamkeit dieser Handlungen und bilden eine Metapher für übel zugerichtete Körper und zeitweilig außer Kraft gesetzte Moral Missbraucht, leblos, schlussendlich fügsam erlauben sie uns, eine Distanz zum dargestellten Horror zu erzeugen. Aber die Videokamera arbeitet gegen dieses Abstandnehmen, stürzt sich in die Emotionen, lässt die Qual wiederaufleben. Der Projektor erzählt bekannte Geschichten von Orten der Hoffnungslosigkeit: wo Jugendliche in der Monotonie eines ländlichen Umfelds, das ihnen kaum Aufmerksamkeit schenkt, auf der Strecke bleiben und Erwachsene unfähig sind, an eine Zukunft außerhalb ihrer eigenen engen Grenzen zu glauben. Das ist der brutale Kontext, der auch Gisèle Viennes bisherige choreografische Werke inspiriert hat. Nun hat sie ihn in die Sprache des Films übersetzt, eines Films, der tief in die Seele dringt. Während die Szenerie eine Distanz herstellt, ist die Kamera konfrontativ. Am Ende erlaubt die audiovisuelle Sprache weitere Einsichten. In einer Atmosphäre, die von Gedanken und Geräuschen umschmeichelt wird, bleiben Geister zurück. Die Geister in Capdevielles Händen, in seinen Puppen, offenbaren und analysieren die Affektverschiebung der Täter. Und mithilfe des kinematografischen Apparats, der sie durch Zeit und Raum befördert, sie im Licht manifestiert, ohne dass sie dafür einen Körper benötigen, werden noch mehr Geister heraufbeschworen. Die Montage schreibt diese Qual um, und sie reist durch die Vergangenheit zu uns, nimmt andere Formen an, schlüpft in andere Körper. Sie folgt dem Schauspieler hinter die Kulissen, wie wir. Assoziationen und Gefühle überschneiden sich. Mit diesem Film fügt Gisèle Vienne ihrem bemerkenswerten Œuvre nicht einfach ein weiteres Stück hinzu, das sie mit jeder Aufführung verfeinert, sondern sie transformiert, ja, vervollkommnet es. Das verstärkt meiner Meinung nach den emotionalen Aspekt und geht auf einer individuellen Ebene eine Verbindung mit den Betrachtenden ein und wird gleichzeitig gemeinsam mit anderen in einem Raum erlebt wird. Dieser Film, mit seiner Choreografie von Bewegung und Tempi, mit der kunstfertigen und achtsamen Aufmerksamkeit für Stimmungen, stellt eine atemberaubende Leistung dar, die einen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen hat und die der Projektor hoffentlich immer wieder abspielen wird.

 

Eva Sangiorgi ist Autorin und Programmkoordinatorin. Sie lebt und arbeitet in Wien. Neben verschiedenen Kooperationen mit Festivals in Lateinamerika gründete sie FICUNAM in Mexiko-Stadt – ein Festival, das sie bis 2018 leitete. Sie war im Filmvertrieb, in der Produktion und beim Fernsehen tätig. Derzeit ist sie künstlerische Leiterin der Viennale – Vienna International Filmfestival und seit 2021 Koordinatorin der Abteilung Filmkuratorische Studien an der Elías Querejeta Zine Eskola (EQZE) in San Sebastián, Spanien.

 

 

 

 

 

 

 
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